Schweizer finden in ihren Postkästen bald wieder Jodtabletten. Alle zehn Jahre werden diese vorbeugend verteilt, damit Bewohner im Umkreis von bis zu 50 Kilometern um Atomkraftwerke besser vor Unfällen in eben diesen geschützt sind. Industrie und Umweltschützer kritisieren die Massnahme.

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Die Pressemitteilung der Schweizer "Geschäftsstelle Kaliumiodid-Versorgung" vom Mittwoch dieser Woche umfasst gerade einmal 64 Wörter: "Zwischen dem 27. Oktober und Ende November erhalten gut 4,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner ihre persönliche Packung Jodtabletten. Alle Personen, die im Umkreis von 50 Kilometern um die Kernkraftwerke Mühleberg, Gösgen, Beznau I + II und Leibstadt wohnen, erhalten per Post im Auftrag des Bundes kostenlos eine Packung Jodtabletten. Sie dienen der Vorsorge und dürfen im Ereignisfall nur auf Anordnung der Behörden eingenommen werden." Um den Sinn und die Kosten dieser Massnahme ist eine heftige Debatte entbrannt.

Jodtabletten gegen Schilddrüsen-Probleme

Bei einem AKW-Unfall kann die rasche Einnahme von Jodtabletten dazu beitragen, dass die Schilddrüse nicht noch zusätzlich schädliches radioaktives Jod speichert. Dieses kann zu schweren gesundheitlichen Schäden führen. Mit dem angekündigten Tablettenversand in der Schweiz werden nach zehn Jahren nicht nur die Bestände in den Haushalten rund um die Atomkraftwerke ersetzt. Anfang Jahr hatte der Bund den Radius um die AKW für die Verteilung von 20 auf 50 Kilometer ausgeweitet. Somit bekommen nun auch die rund 400.000 Einwohner Zürichs die Pillen mit der Produktbezeichnung "Kaliumiodid 65 AApot"-Tabletten frei Haus geliefert.

Die neue Regelung verursacht Mehrkosten von geschätzt 20 Millionen Franken, auch weil gewisse Bestände aus organisatorischen Gründen vorzeitig entsorgt werden müssen. Die AKW-Betreiber halten die Massnahme des Bundes für übertrieben – denn sie sind es, die laut Gesetz für die Verteilung aufkommen müssen.

Swissnuclear von der Schweizerischen Gesellschaft der Kernfachleute stellt sich auf den Standpunkt, dass der Verordnung teilweise die Rechtsgrundlage fehle und dass sie das Verhältnismässigkeitsprinzip verletze. Die Ausdehnung des Verteilungsradius sei "kontraproduktiv". Der Schutz der Bevölkerung werde "nur scheinbar erhöht, der Aufwand aber mehr als verdreifacht", sagte ein Swissnuclear-Sprecher.

Gleichzeitig kündigte die Organisation an, sie werde sich gerichtlich gegen die Verteilung wehren. Allerdings habe man bislang von der zuständigen Bundesstelle noch keine anfechtbare Verfügung erhalten, gegen die beim Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde eingereicht werden könne.

Ist Versorgung nur ein Tropfen auf den heissen Stein?

Aus ganz anderen Gründen hält Greenpeace Schweiz nichts von der Verteilaktion. Bei der Jodvorsorge handele es sich "leidglich um einen Tropfen auf den heissen Stein", erklärt die Umweltschutzorganisation. Auf die Folgen eines Atomunfalls wisse der Katastrophenschutz bis heute keine Antwort. Vollschutz biete nur die Ausschaltung des Gefahrenherds – der AKW.

"Die Jodtabletten helfen ausschliesslich gegen das gefährliche Isotop Jod-131 und damit nur gegen Schilddrüsenkrebs", sagt der Atomexperte der Organisation, Florian Kasser, in einer Medienmitteilung. Zusätzlich gebe es aber bei einem Atomunfall noch zahlreiche weitere gesundheitsgefährdende Stoffe, die freigesetzt würden. Jodtabletten schützten ausserdem nur, wenn Betroffene sie rechtzeitig vor dem Einatmen des radioaktiven Jod-131 einnähmen. "Ob das bei einer Notsituation klappt, ist höchst ungewiss."

Für problematisch halten die örtlichen Atomkraftgegner zudem, dass viele Menschen in den deutschen und französischen Grenzgebieten der Schweizer AKW von der Verteilung ausgeschlossen seien. "Das ist absurd, denn die Gefahren der Schweizer Altreaktoren und die schnelle Ausbreitung der radioaktiven Wolke nach einem Atomunfall machen nicht an diesen willkürlichen Verwaltungsgrenzen halt", so Kasser. Um das grundlegende Problem zu beheben, sei das eidgenössische Parlament gefordert. Das berate im Winter über das Schweizer Kernenergiegesetz und solle kürzere Restlaufzeiten für alle AKW beschliessen.

Schweiz will aus Atomenergie aussteigen

Nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 hatte die Regierung in Bern am 25. Mai 2011 im Grundsatz den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. Der Nationalrat stimmte am 8. Juni zu, der Ständerat folgte am 28. September. Das Gesetz soll so geändert werden, dass keine Bewilligungen für neue AKW erteilt werden, die bestehenden Anlagen sollen nach einer Gesamtlaufzeit von maximal 50 Jahren vom Netz. Somit wäre der Atomausstieg bis 2034 vollzogen – zwölf Jahre später als etwa in Deutschland.

In der Schweiz sind vier Kernkraftwerke mit fünf Reaktorblöcken und einer installierten Bruttogesamtleistung von 3.372 Megawatt am Netz. Ihr Anteil an der Gesamtstromerzeugung des Landes beträgt rund 40 Prozent. Ältester noch betriebener Atommeiler ist Block 1 des AKW Beznau im Kanton Aargau, er liefert bereits seit 1969 Strom. Hier kommt es immer wieder zu Zwischenfällen, wie beispielsweise Lecks in Pumpen oder defekte Dampferzeuger, die eine Schnellabschaltung des Reaktors erfordern. Der Siedewasserreaktor in Leibstadt – es liegt ebenfalls am Rhein im Kanton Aargau - ist mit einer Leistung von 1.200 Megawatt das grösste AKW der Schweiz.

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