Berlin (dpa) - Wer Bahn fährt, braucht schon jetzt starke Nerven. Die Züge kommen so oft zu spät, dass es nur noch eine Zumutung ist - sagt selbst die Deutsche Bahn. Nun sollen auch noch Güterzüge Vorrang vor Personenzügen Vorrang erhalten.
Dann nämlich, wenn sie Kohle, Gas, Öl oder Trafos geladen haben - also alles, was Kraftwerke und Fabriken am Laufen hält. Denn der Rhein hat zu wenig Wasser, dort kommt die Fracht kaum noch durch. Das muss aber nicht unbedingt bedeuten, dass das Bahn-Chaos für die Fahrgäste noch grösser wird.
Wieso ist die Bahn so unpünktlich?
Es sind so viele Züge unterwegs wie nie. Gleichzeitig aber wird auf Rekordniveau gebaut, damit das sanierungsbedürftige Schienennetz durchhält. Derzeit fluten auch noch Massen von 9-Euro-Ticket-Kunden die Regionalzüge; die Bahn muss schon Zusatzpersonal einsetzen, um das Ein- und Aussteigen zu beschleunigen.
Weniger als 60 Prozent der Fernzüge waren zuletzt pünktlich - und da sind verspätete Abfahrten von bis zu sechs Minuten schon mit drin. Auch im Regionalverkehr sind es mit unter 90 Prozent aussergewöhnlich wenig pünktliche Züge.
Warum sollen Kohle, Gas und Öl Vorrang erhalten?
Auch Güterzüge kommen zu spät. Weil zeitweise mehr als 200 Güterzüge still standen, schimpft auch die Industrie seit Monaten über die Bahn. Dazu kommen nun zwei Krisen auf einmal: die Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und die Klimakrise in Form von Trockenheit und Niedrigwasser im Rhein. Deshalb die geplante Verordnung.
"Ziel ist es, den Betrieb von Kraftwerken, Raffinerien, Stromnetzen sowie von weiteren lebenswichtigen Betrieben sicherzustellen", heisst es in einem Papier der Bundesministerien für Wirtschaft und für Verkehr, das am Wochenende verbreitet wurde. Damit weiter Kohle in Kraftwerke und Öl in Raffinerien kommt, wollen sie Energietransporten auf der Schiene sechs Monate lang Vorrang einräumen.
Wie viel Kohle, Öl und Gas laufen heute schon über die Schiene?
Die Deutsche Bahn als Marktführer fährt wöchentlich 50 Züge mit je 3000 Tonnen Steinkohle. Ein grosses Steinkohlekraftwerk wie Gelsenkirchen-Scholven braucht unter Volllast 20 000 Tonnen am Tag. Verglichen mit den 20 000 Cargo-Zügen insgesamt fallen die 50 Kohlezüge nicht so sehr ins Gewicht, auch nicht wenn ihre Zahl verdoppelt würde. Kohle lässt sich ausserdem gut auf Halde legen - muss also nicht unbedingt zu bestimmten Tageszeiten zum Kraftwerk.
Bei Öl und Gas sind die Konkurrenten stärker als die DB, ihr Verband Netzwerk Europäischer Eisenbahnen nennt aber keine Zahlen. Vize-Geschäftsführerin Neele Wesseln weist darauf hin, dass Unternehmen schon heute ihre Güterzüge vorziehen lassen können. Sie müssten nur bei der Gebühr für die Schienennutzung eine Express-Zulage zahlen. Die geplante Rechtsverordnung sehen die Güterbahnen daher skeptisch.
Was sagen Fahrgastvertreter?
Auch sie halten nicht viel vom Vorrang für Züge mit Kohle, Öl, Gas oder Trafos. "Es darf kein Nah- oder Fernverkehrszug für diese Transporte ausfallen", verlangt der Vorsitzende Detlef Neuss.
In der 9-Euro-Ticket-Aktion offenbarten sich alle Probleme der Eisenbahn in Deutschland. "Wir haben in den letzten drei Jahrzehnten beim Ausbau geschlafen und sogar sträflich Infrastruktur abgebaut." Jetzt noch mehr Verspätungen? Das würden die Leute aus den Zügen zurück ins Auto treiben, meint Neuss. "Das ist genau das, was wir nicht wollen."
Werden die Züge für Fahrgäste noch unpünktlicher?
Im Zweifel müsse der Personenverkehr warten, erläutert Verkehrsminister Volker Wissing (FDP). Verspätungen für die Fahrgäste sollen nach dem Regierungspapier aber "weitestgehend" vermieden werden. Helfen könnte, dass die 9-Euro-Ticket-Aktion Ende August ausläuft und die Sommer-Reisewelle allmählich abebbt. Nach Branchenangaben sind auch noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, bestehende Güterzüge zu verlängern oder auch mehr in der Nacht zu fahren.
Es lassen sich ohnehin kurzfristig nicht alle Transporte auf die Schiene verlagern, denn die Wagen sind europaweit knapp. Weder der Bundeskonzern noch seine Güter-Konkurrenten verzeichnen derzeit eine höhere Nachfrage nach Energietransporten. "Die Rechtsverordnung zur Priorisierung versorgungsrelevanter Züge ist eine sinnvolle Vorsorgemassnahme der Bundesregierung", heisst es denn auch bei der Deutschen Bahn. "Ob sie überhaupt zum Tragen kommen muss, bleibt abzuwarten."
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