Karlsruhe - Einer der heikelsten Momente für Tobias Krieger ist das Absteigen. Ein kleiner Metallstab, der Step, steht ihm zur Verfügung, wenn er sich vom Hochrad schwingt. Kaum lang genug für eine Schuhbreite. Dann heisst es: Tritt finden, Gewicht verlagern, bremsen und schnell den zweiten Fuss auf den Boden setzen.
"Das ist ein kurzer Moment", sagte Krieger. "Den Step muss man blind finden." Wenn es regnet, sei ihm die Abrutschgefahr zu gross zum Hochradfahren. "Alles, was nass und glitschig ist, vermeide ich wie die Pest."
Auch wenn er Kurven fährt, kann Krieger nicht absteigen. Denn der Sattel sitzt kurz hinter den Griffen zum Lenken auf dem übergrossen Vorderrad. An dem sind auch die Pedale montiert. Sitzt Krieger dort und das Rad schwenkt nach links oder rechts für eine Kurve, kommt er mit dem Bein nicht auf den Step, der am sogenannten Rücken angebracht ist - einer gebogenen Strebe, die zum viel kleineren Hinterrad führt.
Die Vollgummireifen ohne Profil geben jeden Stoss - nicht abgefedert - weiter. Auf Schotter zu fahren sei sehr unangenehm. "Pflastersteine sind auch richtig fies", sagt Krieger. "Du musst permanent die Strasse lesen." Ob Steine, Äste oder hohe Bordsteine - jeder Widerstand bremst den Schwung des Rades auf der Stelle. Im schlimmsten Fall fliegt der Fahrer vornüber vom Rad. Und das aus grosser Höhe: Zurzeit ist der 60 Jahre alte Karlsruher vor allem mit einem 52-Zoll-Rad unterwegs. Das sind umgerechnet mehr als 1,30 Meter.
Verletzungsgefahr machten das Hochradfahren schwierig
Die Höhe und die damit verbundene Verletzungsgefahr machten das Hochradfahren schwierig, sagte der Vorsitzende des Vereins Historische Fahrräder, Christoph Ulbrich. "Wer Fahrrad fahren kann, kann sich auf jedes historische Fahrrad setzen - aber eben nicht aufs Hochrad." Das bleibe den Spezialisten überlassen. Davon gebe es gut zwei Handvoll, "die das auch wirklich mit Leidenschaft verfolgen".
Krieger zählt seit 2003 dazu. Schon davor habe er Rad-Oldtimer gesammelt, berichtet er. Ein befreundeter Fahrradhändler habe ihm dann mal einen Flyer von einer Hochradfahrschule gezeigt - und seine damalige Freundin ihm dann schliesslich einen Kurs geschenkt.
Inzwischen nennt der Musiker und Musiklehrer zehn Hochräder sein Eigen: teils Originale aus den 1870er und 1880er Jahren ("Die fahren teilweise wie ein Biest"), teils extra massangefertigte Replikas. Die baue ein Freund aus Tschechien, erzählt Krieger. 3000 bis 3500 Euro koste so ein Hochrad aus Handarbeit. Je mehr Schnickschnack dran ist, je mehr Vernickelung gewünscht, desto teurer wird es - versteht sich.
Einst war die hoch entwickelte englische Fahrradindustrie führend in der Produktion von Hochrädern, wie es auf der Internetseite hochrad.info heisst. "Anno 1887 existierten in Deutschland über 60 Fahrradfabriken, die in diesem Jahr ca. 7000 Räder herstellten. Zwei bis dreimal so viele Räder wurden im gleichen Zeitraum aus England exportiert." Besonders geeignet für den Vertrieb der Hochräder galten demnach Nähmaschinenhändler, da diese oft als ausgebildete Schlosser oder Mechaniker die Grundvoraussetzungen für eine fachmännische Behandlung und etwaige Reparaturen der Räder mitgebracht hätten.
Hochrad ist eine "Sackgasse in der Entwicklung"
Doch wegen der grossen Unfallgefahr und den hohen Anforderungen an die Fahrer wurde das Hochrad alsbald abgelöst. "Je höher das Rad, desto schwerer ist es zu händeln", sagt Krieger. Es sei schwerer zu treten, fahre den Berg schlechter rauf, Kurven seien deutlich unangenehmer. "Gerade Reflexe, die man als Radfahrer drauf hat, sind gefährlich auf dem Hochrad", sagt er und nennt abruptes Bremsen als Beispiel. Ähnlich äussert sich Ulbrich vom Verein Historische Fahrräder. Das Hochrad sei eine "Sackgasse in der Entwicklung" gewesen.
Nichtsdestotrotz seien Hochradfahrer Hingucker auf jedem Treffen des Vereins, erzählt der Vorsitzende. Das bekommt auch Krieger in Karlsruhe zu spüren. Wann immer er unterwegs sei, zückten Menschen ihr Handy und machten Fotos. Oft ohne zu fragen, ob das okay ist.
Heute fährt der 60-Jährige dann und wann mit dem Hochrad. "Es gab Zeiten, da bin ich jede freie Minute draufgesessen." Zur Arbeit sei er gefahren oder tagelange Touren quer durchs Land, 80 bis 100 Kilometer pro Tag. Es gebe extra Reisesattel, sagt Krieger. Und Möglichkeiten, Gepäck zu befestigen. Vor allem die Ruhe während einer Hochradfahrt sei mit nichts zu vergleichen, schwärmt er. "Das ist völlig geräuschlos! Weder Kette noch Ritzel noch sonst irgendwas."
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