Dallas/Bamberg/Berlin - Wer vor 20 Jahren, geschweige denn vor noch längerer Zeit, einer Person erzählt hätte, eines Tages habe praktisch jede Person ein kleines Gerät in der Tasche, mit dem spontan Sexpartner in der Nähe aufgespürt werden können - wer hätte es geglaubt? Heute scheint das für Millionen mit GPS-basierten Flirt-Apps Alltag. Wobei es bei Dating-Apps natürlich nicht immer nur um Sex geht. Ein deutscher Soziologe und Experte betont, dass Dating im Internet weit komplexer und anspruchsvoller sei als viele denken.
Vor zehn Jahren jedenfalls (12. September) startete die App Tinder, deren Markenname wie bei "googeln" oder "kärchern" zu einem deonymischen Verb geworden ist: also zum Tätigkeitswort "tindern".
Tinder (deutsch: Zunder) ist die App, die das sogenannte Swipen zum Massenphänomen machte. Nutzer sehen Profile mit Fotos und Infos in ihrer Nähe: Gefällt ihnen jemand, wischen sie nach rechts, bei Nichtgefallen nach links. Wenn sich beide Personen gegenseitig gut finden, entsteht ein sogenanntes Match - und Chatten wird möglich. Natürlich ist diese Grundidee längst um andere und kostenpflichtige Funktionen erweitert worden - aber das sei an dieser Stelle mal egal.
190 Länder und mehr als 40 Sprachen
"Tinder ist die weltweit beliebteste App, um neue Leute kennenzulernen", lautet die Selbstbeschreibung der Software, die inzwischen längst zum Tech-Unternehmen Match Group (auch OkCupid, Hinge, Pairs, OurTime) mit Hauptsitz in Dallas (Texas) gehört. Nach eigenen Angaben ist Tinder in 190 Ländern und mehr als 40 Sprachen verfügbar. "Tinder wurde mehr als 530 Millionen Mal heruntergeladen und hat zu mehr als 75 Milliarden Matches geführt." Pro Woche führe die App zu 1,5 Millionen Dates. Bei exakteren Zahlen zum deutschen oder deutschsprachigen Markt gibt sich die Firma jedoch bedeckt.
Nach Angaben des Marktforschungsunternehmens Data.ai steht die Singlebörse auch 2022 an der Spitze der Download-Charts für Dating-Apps in Deutschland. Bei Verbraucherausgaben und der Zahl der aktiven Nutzerinnen und Nutzer belege Tinder den ersten Platz. Grösste Tinder-Konkurrenz ist demnach die App Bumble, die sich vor allem dadurch unterscheidet, dass dort nach einem Match nur Frauen ein Gespräch starten können. Darüber hinaus ist Lovoo recht stark. Dort gibt es die Icebreaker-Funktion, die es erlaubt, Leute trotz Links-Swipes knapp zu kontaktieren, um doch noch das Eis zu brechen.
Vor Tinder war das zwanglose Treffen via Geo-Daten-App eine Art Vorrecht der queeren Community. Im Jahr 2009 - kurz nach Einführung des iPhones von Apple - erfand Joel Simkhai, der als Kind aus Tel Aviv in die USA kam, mit Grindr die erste Dating-App, die auf GPS-Daten basiert. Die Schwulen-App Grindr - ein Kofferwort aus "Guy" und "Finder" (also Kerlefinder) und angelehnt ans Verb "grind" (reiben, schleifen) - sortierte mögliche Partner nicht mehr nach gemeinsamen Interessen wie es Single- und Partnerbörsen oft tun, sondern ging danach, wer gerade mit dem Handy in der Nähe ist.
Simkhai versuchte zwar 2011 mit Blendr, eine solche App auch für Heteros zu konzipieren, scheiterte aber. Erst ab 2012 mit Tinder und der Idee des Swipens wurde Online-Dating auch ein nicht-queeres - oder eben anders gesagt - gesamtgesellschaftliches Massenphänomen.
"Sexuelle Revolution der ewigen Verfügbarkeit"
"In Sachen "Offenheit" hat Tinder sicher einiges für Heteros getan", sagt die "Ladylike"-Podcasterin Nicole von Wagner. Viele suchten unkomplizierte Sexdates, One-Night-Stands oder sogenannte Freundschaft Plus. "Tinder hat die sexuelle Revolution der ewigen Verfügbarkeit ausgelöst. Man muss nur auf dem Handy nach rechts wischen und sich zum Sex verabreden." Nahezu jede und jeder dort habe "mehrere Eisen im Feuer", wolle nur die vermeintlich Besten treffen.
Mit der riesigen Auswahl mache Tinder viele Leute auch oberflächlich, meint Buch-Autorin Nicole von Wagner ("Da kann ja jede kommen"). "Wir bewerten eine Person innerhalb von Sekunden nach einem Foto und wischen nach links, wenn uns die Nase nicht passt." Bei ihrem Erotikpodcast schrieben ihr Frauen oft, sie schämten sich, Dating per Internet zu betreiben und im realen Leben keinen Kerl an Land zu ziehen. "Sie fühlen sich dafür vom Umfeld oft abgewertet. So, als wäre ein Flirt an der Supermarktkasse mehr wert als einer online."
Der Soziologe Thorsten Peetz von der Uni Bamberg sieht Online-Dating differenzierter. "Das Klischee, es sei eine oberflächlichere Form des Kennenlernens und eine Ökonomisierung des Intimlebens, wird dem Phänomen nicht gerecht." Er betont, es sei eine durchaus reflektierte Form der Partnersuche. "Viele erzählen mit Bildern und Texten ganze Geschichten, verkünden genau, was sie wollen und eben nicht wollen."
Peetz, der unter anderem den Fachartikel "Digitalisierte intime Bewertung - Möglichkeiten sozialer Beobachtung auf Tinder" veröffentlicht hat, widerspricht dem Bild von einer Art Warenhaus, in dem Frau oder Mann sich einfach jemanden besorge.
"Es gibt zwar eine Reihe von Studien, in denen Leute schildern, dass sie Tinder wie einen Katalog zum Durchblättern oder sogar wie eine Fleischtheke empfinden, an der man guckt und wählt, aber mit der Realität hat das meist wenig zu tun", sagt Professor Peetz. "Man kann ja eben nicht einfach eine Person haben wollen und das funktioniert dann auch. Es handelt sich vielmehr um ein Spiel, in dem alle versuchen, ihre eigene intime Wertigkeit zur Geltung zu bringen."
Annehmbare Version des eigenen Selbst
Leute bei Tinder und anderen Apps zeigten eine annehmbare Version des eigenen Selbst vor, sagt Peetz. Das mache jeder auch im normalen Alltag mit Kleidung, Frisur und seiner Art sich zu bewegen.
Bei Dating-Apps gibt es anspruchsvolle Herausforderungen rund um Identität und Interpretieren, wie der Soziologe sagt. "Die Aufgabe, die sich stellt, ist, einzuschätzen, was für eine Art von Typ ist die Person auf der anderen Seite des Bildschirms eigentlich? Wie passt sie zu dem Spiel, das ich hier spielen will? Was für eine Person kann ich da eigentlich erwarten, wenn ich mich eines Tages analog treffe?" Kurz: Tinder und Co. sind höchstkomplex statt bloss schneller Sex.
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