Bücher lesen ist out und altmodisch? Von wegen: Das Projekt "Insta Novels" macht Weltliteratur digital erfahrbar – und verwandelt die Fotoplattform Instagram in einen Lesezirkel.
Es ist dieser Tage eine echte Herausforderung, nicht dem Kulturpessimismus anheim zu fallen. Denn scheinbar laufen zahlreiche Errungenschaften Gefahr, von der Disruption hinfort geweht zu werden.
Schüler*innen können angeblich kaum noch per Handschrift kommunizieren, Bewerber*innen trotz Rechtschreibprüfung kein fehlerfreies Anschreiben mehr formulieren. Und wer nimmt sich in Zeiten der stichwortartigen Kommunikation bei WhatsApp und Twitter überhaupt noch Zeit für die Lektüre eines ganzen Buchs?
Nun wollen wir bei ada nicht ständig den Verlust von Vergangenem beklagen - genauso wenig wie die Chefs der New York Public Library, kurz NYPL. "Uns ist völlig egal, wo die Menschen lesen", sagte Richert Schnorr, Director of Digital Media der Bibliothek kürzlich dem US-Magazin "Fast Company". Und weiter: "Wir treffen sie gerne dort, wo sie sich eh schon aufhalten."
Insta Novels: Das Smartphone als eBook-Reader
Deshalb startete die NYPL im August 2018 ein ungewöhnliches Experiment: Auf ihrem Instagram-Account präsentierte sie das Kinderbuch "Alice im Wunderland" als weltweit erste "Insta Novel".
Dafür fotografierte sie aber nicht einfach nur ein paar Buchseiten ab. Stattdessen holte sich die NYPL Hilfe bei der Designagentur Mother New York. Sie sorgte mit der Schriftart Georgia (auch auf Smartphones gut lesbar), der Hintergrundfarbe beige (besser für die Augen) und entsprechenden Grafikelementen für eine Instagram-taugliche Optik.
Zu den Insta Novels gehört inzwischen neben "The Raven" von Edgar Allen Poe oder "A Christmas Carol" von Charles Dickens auch "Die Verwandlung" von Franz Kafka. Und weil sich darin der Protagonist Gregor Samsa in einen Käfer verwandelt, taucht das Tierchen bei Instagram am unteren rechten Bildrand auf, gewissermassen als digitales Daumenkino.
Kulturpessimismus ist was für Einfallslose
So viel Liebe zum Detail kommt an. Innerhalb eines Jahres wurden die Bücher von mehr als 300.000 Menschen gelesen, der Instagram-Account gewann mehr als 130.000 Fans.
Was man aus dem erfolgreichen Experiment lernen kann? Zum einen ist Instagram offenbar vielseitiger als gedacht.
Ursprünglich konzipiert als Fotoplattform, lässt sie sich mit genügend Kreativität auch zum Lesezirkel umfunktionieren. Zum anderen zeigen die Nutzerzahlen und euphorischen Kommentare, dass Bücher auch in Zeiten der Digitalisierung Leser*innen finden - wenn man sie entsprechend kreativ und kanalgerecht aufbereitet.
Schnöder Kulturpessimismus ist demnach in Wahrheit ein Indiz für Einfallslosigkeit und die mangelnde Bereitschaft, out of the box zu denken. Wer hingegen mit der Zeit geht, wird auch mit der Zeit nicht gehen.
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