Kontrollverlust, Entzugserscheinungen, Vernachlässigung von Hobbys: Bei manchen Menschen dominiert das Smartphone den gesamten Alltag. Nicht mal nachts wird das Gerät ausgeschaltet. Die Psychiaterin Nadine Wolf rät Eltern, ihre Kinder frühzeitig über die schädlichen Folgen aufzuklären – und selbst ein positives Vorbild zu sein.
2015 gab es in Deutschland rund 46 Millionen Smartphone-Besitzer. Gibt es seriöse Schätzungen, wie viele von Ihnen ein problematisches Nutzungsverhalten an den Tag legen?
Nadine Wolf: Nein. Dazu gibt es hierzulande noch keine aussagekräftigen Untersuchungen. Internationale Studien aus dem asiatischen und angloamerikanischen Raum gehen von 8 bis 20 Prozent aus, eine Schweizer Studie kam auf 15 Prozent. Jedoch wurden meist jüngere Menschen untersucht. Ich vermute daher, dass die Zahlen in der Gesamtbevölkerung niedriger sind.
Gibt es Menschen, die anfälliger für eine Smartphone-Sucht sind?
Ja, Frauen. Sie nutzen Chat-Apps wie WhatsApp häufiger, sind mehr an sozialer Kommunikation und sozialen Medien interessiert. Darin stimmen alle Studien überein.
Wann kann man eigentlich von Suchtverhalten sprechen?
Zunächst handelt es sich bei der "Smartphone-Sucht" noch nicht um ein anerkanntes Krankheitsbild nach der internationalen Klassifikation psychiatrischer Erkrankungen. Es ist eher ein vorläufiger Begriff, eine Art "Slangbegriff" in Fachkreisen – und mittlerweile wohl auch darüber hinaus.
Wir sprechen schliesslich von einem sehr jungen Phänomen: Die Smartphones sind erst in den letzten drei, vier Jahren so richtig populär geworden. Die Suchtkriterien unterscheiden sich grundsätzlich nicht von anderen Verhaltenssüchten wie der Internetspielsucht und Kaufsucht oder stoffgebundenen Süchten wie dem Alkoholismus.
Welche Kriterien sind das?
Starkes Verlangen, Kontrollverlust, Toleranzentwicklung, Entzugserscheinungen wie Nervosität und Ungeduld, das Vernachlässigen anderer Interessen sowie die weitere Nutzung trotz schädlicher Folgen.
Was für eine Art von Therapie empfehlen Sie – völlige Abstinenz?
Naja, das völlige Entsagen vom Gerät ist nicht erwünscht und oft auch gar nicht möglich. In einer kognitiven Verhaltenstherapie geht es darum, die eigenen Denk- und Verhaltensmuster zu verändern. So soll das schädliche Verhalten eingeschränkt, gleichzeitig sollen positive Aktivitäten wie Hobbys reaktiviert werden. Der Patient soll verstehen, warum er überhaupt so viel Zeit am Gerät verbringt. Oft liegen dem Suchtverhalten nämlich andere Konflikte zugrunde.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel ein Partnerschaftskonflikt. Ein Betroffener versuchte mit exzessiv betriebenen Chatnachrichten seine Partnerin zu kontrollieren, Eifersucht und ein geringes Selbstwertgefühl spielten dabei eine grosse Rolle. Hier muss in einer Therapie ein Schwerpunkt auf Selbstwertstabilisierung gelegt werden.
Sie benennen eine geringere akademische Leistung, geringere Lebenszufriedenheit, Schlafstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen oder depressive Symptome als mögliche Folgen der problematischen Nutzung von Smartphones. Sollte es mehr Aufklärung für junge Leute geben oder sogar eine Altersgrenze?
Es ist fraglich, ob eine Altersgrenze gesellschaftlich gewünscht und durchsetzbar ist. Für mehr Aufklärung plädiere ich auf jeden Fall. Da geschieht bisher meines Wissens nichts – abgesehen von den Plakaten an den Autobahnen, die mahnen beim Fahren das Gerät aus der Hand zu legen. Aber die richten sich ja an Erwachsene.
Wenn ich als Elternteil unsicher bin: Was halten Sie für ein angemessenes Alter, um Kindern oder Jugendlichen ein Smartphone zu kaufen?
Ich tue mich schwer damit, eine Altersgrenze zu empfehlen. Wenn die Erwachsenen dem Nachwuchs einen angemessenen Umgang mit den Geräten vorleben und auf die Risiken aufmerksam machen würden, wäre schon viel geholfen.
Gerade in der Schule gibt es sozialen Druck, beispielsweise klasseninternen WhatsApp-Gruppen beizutreten. Fast rund um die Uhr werden Nachrichten verschickt. Wer nicht ständig erreichbar ist, muss sich Vorwürfe anhören oder ist aussen vor. Was für Auswirkungen kann das auf die Psyche haben?
Über die Langzeitfolgen gibt es noch keine belastbaren Ergebnisse. Dass durch die ständige Erreichbarkeit ein hoher Druck entstehen kann, steht ausser Frage. Auch Mobbing kann in diesen Gruppen zum Problem werden.
Wie könnte ein kleiner Leitfaden zur idealen Smartphone-Nutzung aussehen?
Kindern und Jugendlichen würde ich vorgeben, dass nur eine bestimmte Zeitspanne, zum Beispiel eine halbe Stunde am Tag, für Chats-Apps genutzt werden darf. Nachts sollte das Gerät komplett ausgeschaltet werden.
Und natürlich sollte man darauf achten, ob es zu Konflikten wegen der Smartphone-Nutzung kommt. Es kann als Elternteil sicher nicht schaden, die allgemeinen Suchtmerkmale im Hinterkopf zu behalten – allerdings auch im Hinblick auf das eigene Nutzungsverhalten.
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