Das Entsetzen und die Empörung waren gross. Unbeschreiblich hasserfüllte Kommentare und abstossende Tiraden waren vor der Deutschlandzentrale von Twitter auf den Boden gemalt worden. Die Frage lautete: Wer tut so etwas Widerwärtiges? Nun gibt es eine bemerkenswerte Antwort.

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"Das ist Populismus pur! Rechtsradikal, frauenfeindlich - menschenverachtend!", lautete der entsetzte Kommentar eines Fussgängers. "Das ist einfach widerlich!"

Verstörendes Graffiti vor Twitter-Büro

Dem konnte man nicht widersprechen. Im Eingangsbereich der Deutschlandzentrale des US-Konzerns Twitter in Hamburg waren mit Farbe verstörende Aussagen auf den Boden gemalt worden.

Neben vielen weiteren Scheusslichkeiten war dort in Deutsch und Englisch mitunter zu lesen:

  • "Deutschland braucht für den Islam wieder die Endlösung"
  • "Judenschwein!"
  • "Schon wieder ein Haufen Kanacken angekommen. Haben die die Ausfahrt nach Auschwitz verpasst?"
  • "Eigentlich sollte man bei euch mal einmarschieren und euch krankes Pack hängen lassen für Deutschlands Not!"
  • "Schwule raus nach Auschwitz!"
  • "Kill all the gays!"
  • "Hitler tat nichts falsch. Der Holocaust ist eine Lüge!"
  • "Lass mal wieder zusammen die Juden vergasen. Die Zeiten damals waren schön!"


"Ich arbeite in einer Beratungsstelle für Sinti und Roma. Wir sind so einen rechtsradikalen Scheiss auch oft gewohnt - aber sowas?!", meinte ein wütender Passant.

Doch wer war für die Hass-Botschaften verantwortlich? - Es ist der Autor und Satiriker Shahak Shapira.

Hass-Botschaften von Twitter geduldet

Die Scheusslichkeiten sind allesamt Tweets, die von Shapira bei Twitter gemeldet worden waren, die das Unternehmen aber teilweise nicht löschte - weil es keinen Regelverstoss feststellen wollte.

Mit seiner Aktion will der deutsch-israelische Künstler somit einerseits auf den Hass in den Sozialen Medien aufmerksam machen, andererseits aber vor allem auch auf die mangelnde Bereitschaft von Twitter selbst, gegen abstossende Hass-Kommentare vorzugehen.

"Wenn Twitter mich zwingt, diese Dinge zu sehen, dann müssen sie es auch zu sehen bekommen", begründet Shapira in einem Video auf YouTube seine provokative Aktion vor der Deutschlandzentrale von Twitter.

Hass-Botschaften vor Twitter-Zentrale

"Wenn Twitter mich zwingt, diese Dinge zu sehen, dann müssen sie es auch zu sehen bekommen", so Shapira. © YouTube

Und er bekommt von den Menschen auf der Strasse Zuspruch: "Mich ärgert, dass sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht darüber aufregt, sondern es einfach hinnimmt", erklärt einer.

Da auch Twitter den Hass einfach ignoriere und somit weitertransportiere, sei Shapiras Aktion "eine gute Idee".

Shahak Shapira sammelte Hass-Kommentare

Ein anderer sieht es ähnlich und die Schuld auch bei Twitter: "Wenn man das mit seinem Produkt geschehen lässt, dann ist das einfach fahrlässig. Das sollte so nicht sein."

Verstörend an den Tweets ist neben dem menschenverachtenden Inhalt auch die Tatsache, dass Shapira für sein Graffiti keine willkürliche Auswahl an Hass-Tweets getroffen hatte.

"Ich habe in den letzten sechs Monaten circa 450 Hass-Kommentare gemeldet, auf Facebook und auf Twitter", erklärt Shahak Shapira in seinem Video.

Bei der Auswahl ging es nicht um Beleidigungen, Sticheleien oder Satire, betont Shapira. Es handelte sich vielmehr um "absolut ernst gemeine Gewaltandrohungen, Homophobie, Ausländerfeindlichkeit und Holocaust-Leugnung".

Shapira lobt Reaktion von Facebook

Facebook habe überraschend schnell reagiert und innerhalb von maximal drei Tagen 80 Prozent der Kommentare gelöscht, lobt Shapira. Bei Twitter war die Reaktion eine andere.

Dort habe Shapira über 300 Tweets gemeldet. Darauf habe er innerhalb von sechs Monaten lediglich neun Antworten erhalten. "Und all diese Antworten besagten, dass kein Verstoss gegen die Twitter-Regeln vorliegt."

Auf die restlichen Meldungen gab es seitens Twitter keine Reaktion.

Obwohl das Unternehmen Transparenz bei den Melde-Prozessen verspricht und somit auch eine Rückmeldung, ob die Kommentare gelöscht wurden, erhielt Shapira nach eigenen Angaben keine Mail zu den Löschvorgängen.

Ungelöschter Hass wird wasserlösliches Graffiti

Von all den Hass-Tweets, die Twitter trotz Meldung nicht gelöscht hatte, hatte Shahak Shapira dann 30 für seine Graffiti-Aktion vor der Deutschlandzentrale in Hamburg ausgesucht.

Von Twitter gab es zunächst noch keine Stellungnahme. Später erklärte das Unternehmen, man äussere sich aus Datenschutzgründen nicht zu einzelnen Nutzer-Accounts.

Mit Bezug auf die Graffitis verwies Twitter ironischerweise auf die Melde-Funktion, die ja gerade Gegenstand der Kritik ist und spielte die Verantwortung im Umgang mit Hass-Kommentaren wieder an seine Nutzer zurück: Diese könnten entsprechende Accounts ja einfach "stummschalten und blockieren", hiess es.

Twitter löscht: Mit Wasser und Bürste

Gelöscht wurden die 30 analogen Kreide-Kommentare dann aber doch recht schnell: Mit einer Reinigungsmaschine am Haupteingang der Twitter-Zentrale, nicht aber im umliegenden Bereich.

Eine Lösch-Aktion mit Symbol-Charakter findet Shapira: "Das passt eigentlich ganz gut zur Twitter-Politik: Vor der eigenen Haustür kehren, um den Rest sollen sich die anderen kümmern."

Dabei war allerdings unklar, wer die Reinigung beauftragt hatte.

Shapiras Aktion unter dem Hashtag #HeyTwitter wurde sogar von Heiko Maas aufgegriffen. Der Bundesjustizminister hatte sich in der Vergangenheit selbst über die mangelnde Lösch-Bereitschaft der Sozialen Medien echauffiert.

Auf seine Initiative hin hatte der Bundestag in diesem Sommer das sogenannte "Netzwerkdurchsetzungsgesetz" verabschiedet, mit dem soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter und YouTube unter Androhung hoher Geldstrafen zum Löschen von Hass-Botschaften gedrängt werden sollen.

Heiko Maas begrüsst #HeyTwitter

Twitter lösche nur ein Prozent der von seinen Nutzern gemeldeten Hass-Kommentare, moniert Maas auf Twitter mit Bezug auf Shahak Shapiras Graffiti-Aktion in Hamburg und betont: "Das reicht nicht!"

Dessen ist sich auch der Künstler bewusst: "Diese Aktion wird nie gross genug sein, um überhaupt zu visualisieren, wie viele von diesen Botschaften auf Twitter stehen", erklärt Shapira. "Aber vielleicht können wir zumindest einen kleinen Denkanstoss bewirken."

Dieses Ziel dürfte erreicht worden sein. Neben dem Denkanstoss darf die Aktion auch als Denkzettel für Twitter verstanden werden. Nach dem Motto: Wer nicht löschen will, muss lesen.

Shapira darf sich jedenfalls auf zynische Weise bestätigt fühlen: Für seinen Hinweis zu ungelöschten Hass-Kommentaren auf Twitter wird er gegenwärtig mit ungelöschten Hass-Kommentaren auf Twitter überzogen.

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