• Seit Xi Jinping die rigorose Null-Covid-Politik in China Ende 2022 nach und nach aufgelöst hat, zirkuliert das Virus nahezu ungebremst in der chinesischen Bevölkerung.
  • Aufgrund kaum wirksamer Impfstoffe und der Null-Covid-Politik herrscht kaum Immunität in der Bevölkerung. Nun berichten Krankenhäuser von Überlastungen und Ärzte klagen über Erschöpfung.
  • Wie ist die Lage in China und welche Konsequenzen ergeben sich daraus auch für uns? Das erklären die Virologin Jana Schroeder und die Wirtschaftsprofessorin Doris Fischer.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Matern sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

China lockert seit Dezember 2022 die strikte Null-Covid-Strategie. Mittlerweile sind sogar Massnahmen für Reisende aufgehoben, die zuletzt noch bis zu drei Wochen in Isolation in einem Hotelzimmer bleiben mussten. Das Virus zirkuliert nun ungebremst in der chinesischen Bevölkerung. Doch diese weist weder durch Infektionen noch durch Impfungen eine besonders hohe Immunität auf.

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Berichte über Twitter zeigen vor Erschöpfung klagende Ärzte und legen nahe, dass es in manchen Krankenhäusern zu Ausnahmesituationen kommt. Die Partei um Staatschef Xi Jinping spricht davon, dass das Virus weniger gefährlich geworden sei, wie die Shanghai-Korrespondentin des Deutschlandfunks, Eva Lamby-Schmitt berichtet. Das Auswärtige Amt rät von nicht-notwendigen Reisen nach China ab. Doch wie ist die Lage in China aus epidemiologisch-virologischer Sicht?

Virologin Schroeder erklärt Corona-Lage in China: Omikron wird zu vielen Erkrankten führen

Dr. Jana Schroeder, Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie, erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion: "Aus offiziellen Quellen wissen wir nur sehr wenig. Was aber klar ist: Das Virus trifft auf eine Bevölkerung, in der vor allem die älteren Segmente kaum immunisiert und geimpft sind. Die Omikron-Variante wird bei uns häufig als harmlos wahrgenommen. Das ist sie ohnehin nicht und wenn Omikron auf eine schlecht geimpfte Bevölkerung trifft, zeigt sich seine Krankheitsschwere." Das Virus werde zu einer Vielzahl von Erkrankungen führen. Die britische Datenfirma Airfinity geht in Modellrechnungen von bis zu 9000 Toten pro Tag aus.

Die in Deutschland gemeinhin verimpften mRNA-Impfstoffe sind in China auch erst kürzlich zugelassen worden. "Wir wissen nicht genau, wie gut die Totimpfstoffe, die in China genutzt wurden, wirken", sagt die Expertin Schroeder dazu. "Wir wissen auch nicht, ob die chinesische Regierung eine schnelle Durchimpfung mit den mRNA-Impfstoffen plant."

Wirtschaftsexpertin Fischer: Corona-Wende hängt mit wirtschaftlichem Abschwung zusammen

Doch warum hat China seine Corona-Politik überhaupt geändert? Das Land kam vor der Omikron-Variante mit seiner Null-Covid-Politik gut durch die Pandemie. Im Jahr 2020 hatte es als einziges Land weltweit ein positives Bruttoinlandsprodukt. Doch mit Omikron musste die chinesische Regierung umdenken, erklärt die Wirtschaftsprofessorin und China-Expertin Doris Fischer im Gespräch mit unserer Redaktion. Nahezu jeder chinesische Bürger wird sich wohl infizieren.

Shanghai

Dramatische Corona-Welle in China: Überfüllte Krankenhäuser in Shanghai

In einem Krankenhaus in Shanghai stauen sich die Betten mit kranken Patienten in den Fluren: Nach dem Ende der Null-Covid-Politik in China breitet sich das Coronavirus dramatisch aus. Allein in Shanghai sollen 70 Prozent der Bevölkerung infiziert sein.

"China hat den Realitätscheck gemacht. Unter Bedingungen von Omikron funktionierte Null-Covid nicht mehr. Immer mehr Lockdowns, hohe Kosten für Teststellen und Quarantäne-Einrichtungen, lahmgelegte Städte, hohe Arbeitslosenzahlen und eine dadurch im Abwärtstrend befindliche Wirtschaft sorgten in Kombination mit vereinzelten Protesten dafür, dass die Regierung die Notbremse zog", so Fischer. Auch die Aussenhandelsdaten hätten deutlich nach unten gezeigt.

"Ich glaube, man hofft, dass sich Corona mit zwei, drei Wellen erledigt haben wird. Nach dem Motto: Lieber ein Ende mit Schrecken, statt ein Schrecken ohne Ende", erklärt die China-Expertin.

China-Kennerin Fischer: Zeitpunkt für Corona-Wende ist kein Zufall

Der Zeitpunkt sei auch kein Zufall. Denn im Oktober fand der Parteitag der Kommunistischen Partei statt. "Da wollte man die Null-Covid-Linie, die wesentlich mit Ji Xinping verbunden ist, nicht aufgeben. Das hätte die Propagandashow gestört. Ich glaube auch, dass man bis ins Frühjahr 2022 hinein noch überzeugt davon war, dass Zero-Covid weiter funktionieren würde", meint Doris Fischer.

Doch mit der Einsicht in die Unaufhaltsamkeit der Omikron-Variante und Diskussionen über die Wirtschaft habe nach dem Parteitag ein Umdenken eingesetzt. "Wir befinden uns jetzt in einem Interregnum, das ist der perfekte Zeitpunkt für die Verkündung einer solchen Massnahme. Die neuen Positionen sind bereits vergeben, die alten aber noch im Amt. Im März auf dem Volkskongress wird die Regierung dann zusammengesetzt. Bis dahin kann man den Schwenk in der Corona-Politik nun kommunikativ abrunden und entsprechende Narrative verbreiten", erklärt Fischer.

Liberalere Corona-Politik in China: Welche Auswirkungen sind zu erwarten?

Problematisch könnten die Liberalisierungen werden, wenn zu viele Menschen gleichzeitig an Covid erkranken. Darauf weist auch Jana Schroeder hin: "Man muss hier vor allem auch die Nicht-Covid-Patienten im Kopf haben. Bei überlasteten Krankenhäusern und vollen Betten kann eine Erkrankung, die im Normalbetrieb vielleicht kein Problem wäre, gefährlich werden." Die rigorose Null-Covid-Politik war aus heutiger Perspektive, ohne gleichzeitig über Impfungen für eine ausreichende Immunität zu sorgen, wohl ein Fehler.

In Bezug auf die deutsche Corona-Strategie stellt die Expertin Schroeder aber klar, dass No-Covid und Zero-Covid als Strategien voneinander zu unterscheiden sind. "In Deutschland war unser Vorbild eher Australien oder Neuseeland. Es ging darum, handlungsfähig zu bleiben, bis eine Impfung verfügbar ist. Dieser Punkt wurde bei Zero-Covid nicht ausreichend berücksichtigt", erklärt die Virologin.

Shanghai hat bereits eine heftige Corona-Welle durchgemacht. "Da kam das ganze Leben zwei bis drei Wochen zum Erliegen", so Doris Fischer. Aber vor den Liberalisierungen habe die chinesische Wirtschaft noch viel mehr unter den Massnahmen gelitten. "Viele kleine Unternehmen sind insolvent gegangen und Produktionen wurden eingestellt. Vor allem der Dienstleistungssektor und kleinere Firmen waren in Schwierigkeiten." Es gelte abzuwarten, inwieweit sich diese wirtschaftlichen Sektoren nun erholen.

Corona zirkuliert ungebremst: Sind die internationalen Lieferketten in Gefahr?

Weil die Weltwirtschaft in keiner guten Verfassung ist, sind Exporte, die das Exportland China eigentlich dringend benötigen würde, um der heimischen Wirtschaft wieder schnell auf die Beine zu helfen, nur wenig aussichtsreich. "Die Chinesen haben aber laut Statistiken in den letzten Jahren viel gespart", merkt Fischer an. "Jetzt ist die Frage: Setzen sie dieses Geld auch in Konsum um? Und wie gross ist die Verunsicherung unter der Bevölkerung? Das sind Faktoren, die eine mögliche Erholung der Wirtschaft mitbedingen", erklärt die Professorin.

Doch was passiert, wenn zu viele Menschen gleichzeitig krank werden sollten? "Wir werden landesweit unterschiedlich lange Unterbrechungen von Produktionen beobachten", stellt Fischer klar. "Wenn Belegschaften krank werden oder Unternehmen dicht machen, werden wir das bemerken. Es wird aber wohl eher nicht zu einem Kollaps der Lieferketten kommen. Vielmehr würde ich das als Schluckauf bezeichnen."

Einige Firmen in China hätten sich bereits auf einen harten Winter vorbereitet und mit Null-Covid geplant. "Die Lagerbestände grösserer Unternehmen sind ausgeweitet worden, sie sind durchaus vorbereitet. Für kleinere Firmen in China, oder solche, die auf Export setzen, kann man kaum eine Prognose treffen", erklärt Fischer. Eine Erholung der Wirtschaft ist für China vor der negativen Prognosekorrektur der Weltbank, die nur noch von einem Wachstum von 4,3 Prozent im Jahr 2023 ausgeht, notwendig.

Wirtschaftsexpertin Fischer: Mit Null-Covid mehr Probleme für Lieferketten

An Unterbrechungen der Lieferketten kann sich auch Jana Schroeder noch gut erinnern. "Wenn zu viele Menschen gleichzeitig krank sind, kann so etwas natürlich passieren. Zu Beginn der Pandemie hatten wir kein Desinfektionsmittel mehr, auch weil der Hersteller die Verschlusskappen für die Behälter nicht mehr liefern konnte. Das verweist darauf, dass wir bei allem Lob der Globalisierung auch Reserven in eigener Produktion aufbauen müssen."

Die Wirtschaftsexpertin Doris Fischer geht von solch dramatischen Situationen aber nicht aus: "Ja, es wird wohl Unterbrechungen in einigen Firmen geben. Aber gleichzeitig besteht auch eine grosse Hoffnung, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Denn: Mit einer Aufrechterhaltung der Null-Covid-Strategie wären die Auswirkungen auf die Lieferketten und die Weltwirtschaft schlimmer gewesen."

Bei medizinischen Produkten sehe man zwar einen einsetzenden Mangel, aber die chinesische Regierung habe zusätzliche Produktion angeordnet. "Die grössere Nachfrage nach beispielsweise Fiebermitteln auf dem globalen Markt kann dabei natürlich zu Engpässen führen. Aber es ist ganz klar: Mit Zero-Covid wären die Auswirkungen rein wirtschaftlich schlimmer. Das soll aber natürlich nicht über das menschliche Leid hinwegtäuschen, das durch Infektionen entsteht", stellt Fischer klar.

Infektionsepidemiologin Schroeder: Immunflucht und neue Variante in China unwahrscheinlich

Aus wirtschaftlicher Sicht sind die Folgen, die die Menschen in Deutschland von der Liberalisierung der chinesischen Corona-Politik mitbekommen werden, wohl eher gering. Doch was bedeutet die freie Zirkulation des Virus‘ für die Entstehung möglicher neuer Varianten? "Viren mutieren immer", erklärt dazu die Expertin Schroeder. " Wenn eine Variante vorteilhaft ist, muss sie aber auch die Chance haben, sich durchzusetzen."

In der kaum immunisierten Bevölkerung kann sich das Virus derzeit nach Belieben verbreiten. "Da herrscht kein Evolutionsdruck. Ein sogenannter Immunescape wäre für das Virus in China im Moment wohl kein Erfolg. Das wäre nur in einer anderen Population mit höherer Immunität der Fall", erklärt die Infektionsepidemiologin. Mit dem Immunescape ist die Entstehung einer Variante gemeint, bei der der bestehende Schutz, der durch eine Infektion oder Impfung besteht, durch das Virus umgangen wird. Dennoch hat das Robert-Koch-Institut nun China als Virusvariantengebiet eingestuft.

Statt den Blick nur auf China zu richten, votiert Schroeder dafür, generell wachsam zu bleiben. "Das Virus zirkuliert fast überall komplett frei. Wir müssen also mögliche neue Varianten im Blick behalten, wie beispielsweise XBB. 1.5, die derzeit in den USA viel zirkuliert. Die Gefahr geht nicht von China aus." XBB. 1.5 ist eine Subvariante von Omikron, die sich offenbar noch schneller ausbreitet. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach liess über Twitter wissen: "Wir überwachen, ob und wie stark die Variante in Deutschland auftritt."

Endemie heisst nicht Ende: Wie viel Schutz ermöglicht grösstmögliche Freiheit?

Der fehlende Evolutionsdruck für das Virus in China stellt auch die Sinnhaftigkeit und Kosten-Nutzen Relation von Tests für aus China nach Deutschland Einreisende in Frage. "Vielmehr sollten wir versuchen, zu sequenzieren, um so einen Überblick über verschiedene Varianten zu bekommen" fordert Schroeder. Eine Möglichkeit sei dabei das Abwassermonitoring, wie es am Flughafen in Frankfurt am Main praktiziert werde.

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Generell müsse man anerkennen, dass der Übergang in einen endemischen Zustand zwar gerade erfolge. "Aber Endemie heisst eben nicht Ende", merkt Schroeder an. "Ich verstehe nicht, wie man da so euphorisch sein kann, auch wenn sich die Situation natürlich seit Beginn der Pandemie wesentlich verbessert hat. Malaria ist auch endemisch in vielen Ländern, das macht es aber nicht weniger gefährlich. Wir müssen weiter präventiv denken, auch aufgrund der Langzeitfolgen von Covid, die Sequenzierung ausbauen, in die Forschung investieren, möglicherweise nasale Impfstoffe entwickeln, die eine bessere Schleimhaut-Immunität bewirken könnten und die Massnahmen je nach Situation anpassen. Dann laufen wir dem Virus nicht immer nur hinterher", schlägt Schroeder vor. "Die Frage muss lauten: Wie viel Schutz ermöglicht grösstmögliche Freiheit?"

Über die Expertinnen: Dr. Jana Schroeder ist Fachärztin für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie, ausserdem Infektiologin und Chefärztin in der Stiftung Mathias-Spital, einem Klinikverbund in NRW. Neben SARS-CoV-2 befasst sie sich als Antibiotic-Stewardship-Expertin insbesondere mit der Infektionsprävention und –therapie. Im Krankenhaus und beratend im ambulanten Sektor, damit Patienten eine zielgerichtete, genau auf sie passende antiinfektive Therapie, z.B. mit Antibiotika erhalten.
Prof. Dr. Doris Fischer ist Inhaberin des Lehrstuhls China Business and Economics an der Universität Würzburg und ist Mitherausgeberin der Schriftenreihe "China – Politics and Economics" im Nomos-Verlag. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählt im Bereich der Forschung zu Wettbewerb, Regulierung und Industriepolitik die Wirtschaftspolitik Chinas. Aktuell forscht sie zu Ausgestaltung der chinesischen Industriepolitik für die Energiewende unter Xi Jinping und zu den Auswirkungen des chinesischen Sozialpunktesystems auf Unternehmen.

Verwendete Quellen:

  • Auswärtiges Amt: China: Reise- und Sicherheitshinweise
  • Deutschlandfunkkultur.de: Von Null-Covid zu null Kontrolle
  • Robert-Koch-Institut: Informationen zur Ausweisung internationaler Risikogebiete durch das Auswärtige Amt, BMG und BMI
  • Telefonisches Interview mit Prof. Dr. Doris Fischer
  • Telefonisches Interview mit Dr. Jana Schroeder
  • Twitter-Profil (Stand: 13. Januar 2023) von Eric Feigl-Ding
  • Twitter-Profil (Stand: 13. Januar 2023) von Karl Lauterbach
  • Worldbank.org: China Economic Update – December 2022
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