1961 wurde der Conterganskandal aufgedeckt, doch die Herstellerfirma Grünenthal stellte sich lange nicht ihrer Verantwortung. Und die Betroffenen leiden bis heute.
Sie ist schwanger und die Frühschwangerschaft macht sich körperlich in Form von Übelkeit bemerkbar. Also geht sie zum Arzt, der ihr ein leichtes Schlaf- und Beruhigungsmittel empfiehlt, vollkommen unbedenklich sei das, sagt er, wie ein "Zuckerplätzchen". Sie bekommt es auch ohne Rezept.
Der Name des Mittels: Contergan, ein Lifestyle-Medikament. Wegen der Einnahme dieses Medikaments wird ihr Baby mit stark verkürzten Armen auf die Welt kommen und sie für immer Schuldgefühle haben. Über 50 Jahre ist dieser beispielhafte Fall jetzt her. Und das Kapitel ist für alle Betroffenen noch längst nicht abgeschlossen.
Lifestyle-Medikament Contergan
Contergan galt als Allheilmittel seiner Zeit. Müde? Gestresst? Abgespannt? Schlaflos? Da gab es Abhilfe, wie die Werbung versprach: "Ruhe und Schlaf zu fördern vermag Contergan. Dieses gefahrlose Medikament belastet den Leberstoffwechsel nicht, beeinflusst weder den Blutdruck noch den Kreislauf und wird auch von empfindlichen Patienten gut vertragen. Schlaf und Ruhe: Contergan, Contergan forte." Besonders schwangeren Frauen mit Morgenübelkeit wurde das Mittel ans Herz gelegt.
Der Tranquilizer des Herstellers Grünenthal wurde vom 1. Oktober 1957 bis zum 27. November 1961 in 46 Ländern millionenfach verkauft. Sein wichtigster Inhaltsstoff war Thalidomid.
Heute weiss man, dass dieser Wirkstoff, der aktuell sein "Comeback" in der Krebsforschung feiert, die Entwicklung von Kindern im Mutterleib massiv schädigen kann. Doch es dauerte lange, bis das erkannt wurde.
Damals gab es in der Bundesrepublik Deutschland kein einheitliches Arzneimittelgesetz. Wie ein neuer Arzneistoff getestet wurde, lag in der Verantwortung des Herstellers.
Die Fälle von Kindern mit Fehlbildungen häuften sich
In der Zeit, in der Contergan auf dem Markt war, häuften sich die Fälle der Neugeborenen, die mit massiven Fehlbildungen auf die Welt kamen. Weltweit waren es schätzungsweise 10.000 Kinder. Neben Deutschland wurden sie vor allem in Grossbritannien, Japan, Kanada und Australien geboren.
Oft waren die Arme stark verkürzt oder fehlten ganz, manchmal fehlten auch die Beine und bei manchen Babys wurden zusätzlich Schäden an den inneren Organen festgestellt. Viele Säuglinge verstarben bereits kurz nach der Geburt.
1958 diskutierte auch der Bundestag über diese Fälle. Man spekulierte, ob sowjetische Atomtests dafür verantwortlich seien, während Contergan weiterhin täglich über die Ladentheke ging.
Die Aufdeckung des Skandals
Es vergingen Jahre, bis die fatale Wirkung von Contergan ans Licht kam. Am letzten Tag des Jahres 1960 machte die Ärztin Leslie Florence im "British Medical Journal" auf die nervenschädigende Wirkung von Thalidomid aufmerksam.
Im Folgenden mehrten sich die kritischen Stimmen. Grünenthal witterte zwar Rufmord, sah sich aber am 26. Mai 1961 dennoch gezwungen, die Rezeptpflicht für Contergan einzuführen.
Dr. Widukind Lenz, Kinderarzt und Dozent an der Hamburger Universitäts-Kinderklinik, und der Gynäkologe William Griffith McBride untersuchten schliesslich unabhängig voneinander den Zusammenhang zwischen Contergan und den Fehlbildungen.
Am 26. November 1961 veröffentlichte die "Welt am Sonntag" einen Artikel auf Basis ihrer Erkenntnisse. Am darauffolgenden Tag wurde Contergan vom Markt genommen.
Der Prozess und die Folgen
Contergan löste einen der grössten Arzneimittelskandale der Bundesrepublik Deutschland aus. Der Prozess gegen den Chef von Grünenthal und acht Beschäftigte am Landgericht Aachen war eines der grössten deutschen Strafverfahren. Und es blieb ohne Verurteilung und Schuldspruch.
Das Verfahren begann im Mai 1968 und wurde im Dezember 1970 eingestellt. Die Eltern der Geschädigten schlossen mit Grünenthal einen Vergleich über einen Entschädigungsbetrag von 100 Millionen D-Mark. 1972 wurde eine Stiftung gegründet, die heute "Conterganstiftung für behinderte Menschen" heisst. Bis heute kämpfen die Opfer für höhere Entschädigungen.
1978 wurde als Konsequenz aus dem Conterganskandal das deutsche Arzneimittelgesetz verabschiedet. Es gilt als eines der strengsten weltweit.
Wie die einstigen Contergankinder ihr Leben meistern
Laut dem Bundesverband Contergangeschädigter leben in Deutschland rund 2.400 Conterganopfer. Sie hatten ihr Leben lang mit den körperlichen, sozialen und auch finanziellen Folgen zu kämpfen. Viele haben Erfahrungen mit Ausgrenzung gemacht und ihr Leben doch erstaunlich gut in den Griff bekommen.
Heute sind sie über 50 und stehen vor neuen Problemen. Jahrelang halfen beispielsweise die Eltern bei der Bewältigung des Alltags, doch diese benötigen nun ebenfalls Pflege und Unterstützung.
Wer keinen Partner hat, ist auf bezahlte Hilfe angewiesen. Doch die finanziellen Mittel reichen dafür kaum aus. Die Betroffenen erhalten monatlich Zuschüsse, die an der Schwere der Behinderung bemessen werden und zwischen 250 und 1.127 Euro liegen. Zusätzlich gibt es jährliche Einmalzahlungen zwischen 460 und 3.680 Euro, wobei die Wenigsten diesen Höchstsatz bekommen.
Es vergingen über 50 Jahre, bis sich Grünenthal 2012 bei den Opfern entschuldigte - höhere finanzielle Entschädigungen waren mit dieser Entschuldigung allerdings nicht verbunden.
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