Die WHO hat vor einem Anstieg von sexuell übertragbaren Krankheiten gewarnt. Was sind die Gründe und wie kann man dem entgegenwirken? Die Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten und Bestsellerautorin Yael Adler ordnet die Entwicklungen ein.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat vor einem Anstieg von sexuell übertragbaren Krankheiten gewarnt. Alleine an Syphilis erkrankten im Jahr 2022 rund acht Millionen Menschen. Zwei Jahre zuvor hatte die Anzahl der Neuinfektionen noch bei 7,1 Millionen Menschen gelegen. Und auch mit Blick auf HIV sinken die Neuinfektionen nach Einschätzung der WHO zu langsam.
Wir haben Yael Adler, Fachärztin für Haut- und Geschlechtskrankheiten, um eine Einordnung gebeten. Sie schlüsselt im Interview die "Gemengelage" auf, die ihrer Einschätzung nach zu dem Rückschritt im Kampf gegen sexuell übertragbare Krankheiten geführt hat.
Kürzlich hat die Weltgesundheitsorganisation vor einem Anstieg von sexuell übertragbaren Krankheiten gewarnt. Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?
Yael Adler: Wir haben es mit einer Gemengelage zu tun. Die "Awareness" (das Bewusstsein für etwas; Anm. d. Red.) ist zurückgegangen und es werden weniger Kondome benutzt. Diese Risikobereitschaft ist vor allem mit den neuen Möglichkeiten der Heilung und dem Wissen über gute Therapien verbunden. Auch Migration hat zu einem Anstieg der HIV-Fälle geführt. Zudem hat während der Covid-Pandemie wohl weniger Diagnostik stattgefunden, sodass danach mehr entdeckt worden ist. Auch die Möglichkeit der Verfügbarkeit spielt eine Rolle. Man kann heute über Apps vergleichsweise einfach Sexualpartner in der Nähe finden.
Auch die HIV-Neuinfektionen sinken nach Einschätzung der WHO zu langsam. Woran liegt das? Hat es mit dem von Ihnen angesprochenen Rückgang in Sachen "Awareness" zu tun?
Ja. In den 80ern gab es Kampagnen, die darauf hingewiesen haben, dass Kondome vor HIV schützen. Heutzutage ist das leider wieder etwas in den Hintergrund getreten. Insofern wünscht man sich wiederum eine offene Ansprache im öffentlichen Raum und natürlich in den Erziehungseinrichtungen, vor allem in den Schulen.
Heute gibt es HIV-Medikamente, die den Patienten und Patientinnen ein fast normales Leben ermöglichen. Ist die Kehrseite der Medaille, dass die Erkrankung nicht mehr ernst genug genommen wird?
Es ist richtig, dass HIV nicht mehr tödlich verlaufen muss, sondern durch Medikamente mittlerweile gut beherrschbar ist. Sogar eine Präexpositionsprophylaxe ist möglich. Man kann also vor ungeschütztem Sexualverkehr Medikamente nehmen, die verhindern, dass man sich mit HIV ansteckt. Tatsächlich sind diese Medikamente so sicher wie Kondome.
Es wird wieder viel mehr ungeschützter Geschlechtsverkehr betrieben, insbesondere in den Grossstädten wie Berlin, wo Sexpartys mit zum Teil über 100 Sexualkontakten an nur einem Wochenende stattfinden. Häufig ist Drogenkonsum die Eintrittskarte, um an diesen Partys teilnehmen zu dürfen. Das hat zur Folge, dass die Risikobereitschaft weiter steigt. Zwar kommt es dabei nicht immer zu HIV-Erkrankungen, dafür aber zu Chlamydien, Syphilis, Tripper, Herpes, Hepatitis und weiteren sexuell übertragbaren Krankheiten. Auch wenn es natürlich Risikogruppen gibt, hat das per se nichts mit gesellschaftlichen Schichten zu tun.
Welche Lebenserwartung haben HIV-infizierte Menschen heute?
Glücklicherweise sind die HIV-Medikamente gut verträglich und mittlerweile mit weniger Nebenwirkungen einhergehend. Dennoch müssen mehrere Medikamente eingenommen werden. Zudem sollte man nicht ausser Acht lassen, dass man kein ganz gesunder Mensch mehr ist, sondern eben ein chronisch infizierter. Aber: Man kann mit HIV ein normales Leben führen und hat eine durchaus normale Lebenserwartung. Die Viruslast ist sehr gut zurückzudrängen, sodass auch das Infektionsrisiko deutlich geringer ist. Andererseits kann in einem Moment der Immunschwäche die Viruslast wieder steigen, sodass man in diesem Fall ansteckend ist.
Welche Geschlechtskrankheit kommt in Deutschland am häufigsten vor?
Die häufigste sexuell übertragbare Erkrankung sind die Chlamydien. Hier spricht man von 300.000 jährlichen Neuinfektionen. Das Problem ist, dass die Frauen oft kinderlos bleiben. Diese Erkrankung trägt man oft ohne Symptome mit sich, so dass die eigentlich wirkungsvolle Behandlung ausbleibt. Chlamydien werden weitergegeben, weil man gar nicht merkt, dass man sie hat.
Was sind Chlamydien?
- Laut der Seite gesund.bund.de des Bundesgesundheitsministeriums werden Chlamydien über den Erreger Chlamydia trachomatis übertragen. Das Bakterium verursacht eitrige und geschwürige Entzündungen an den Geschlechtsorganen. Eine Infektion kann zu Unfruchtbarkeit führen. Infektionen mit Chlamydien sind gut mit Antibiotika behandelbar und Kondome schützen vor einer Ansteckung.
Welche Altersgruppen sind besonders betroffen?
Vor allem jüngere Leute. Zum Beispiel sind von einem Tripper (fachlich: Gonorrhö; Anm. d. Red.) am häufigsten die 20- bis 24-Jährigen betroffen. Auffällig ist hier die Zunahme der weiblichen Erkrankungen von 63 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Dafür ist das Wissen bei den Jüngeren grösser als bei den Älteren. Mit Blick auf die Chlamydien-Fälle ist von einer ähnlichen Altersgruppe auszugehen, während an Syphilis insbesondere die 25- bis 44-Jährigen erkranken.
Warum tun sich Jugendliche heutzutage offenbar schwerer, sich langsam an Sexualität heranzutasten und natürliche Erfahrungen zu sammeln?
Für junge Menschen ist es in der Tat schwierig, sich um ihre Sexualentwicklung zu kümmern. Zunächst einmal ist die Zugänglichkeit zu Pornografie leicht. Man bekommt also eine ganze Menge Akrobatik und Leistungssex vorgetragen – mit teilweise oft sehr unnatürlichen Körpern. Ein junger Mensch kommt also häufig gar nicht in den Genuss, eigene Erfahrungen zu sammeln und sich über Zuwendung, das erste Verliebtsein oder Berührungen an Sexualität heranzutasten. Man würde sich wünschen, dass all das wieder mehr in den Fokus rückt. Es ist wichtig, Kontakte zu echten Menschen in der analogen Welt herzustellen und die schlechten Vorlagen aus der Pornoindustrie, die nicht das reale Sexualleben und nicht unbedingt durchschnittliche Körper abbilden, zu vermeiden.
Wie können Eltern vorbeugend helfen, damit ihre Kinder von sexuell übertragbaren Erkrankungen verschont bleiben?
Sie sollten ihre Kinder und Jugendlichen unbedingt gegen humane Papillomen (HPV) impfen, damit sie keinen Gebärmutterhalskrebs bekommen und die Krankheit gegenseitig verschleppen. Ausserdem wirkt die Impfung auch gegen Feigwarzen und gegen eine grosse Anzahl von krebserregenden Untertypen. Diese Impfung kann man übrigens auch als Erwachsener durchführen lassen, auch wenn sie von den Krankenkassen dann nicht mehr bezahlt wird. Sie hilft sogar den Menschen, die bereits Veränderungen durch HPV haben, bei der Stärkung ihres Immunsystems im Kampf gegen HPV. So können die HPV-Viren weitestgehend in Schach gehalten und die Veränderungen im Schleimhautbereich oder viele Warzen sich zurückbilden. Diese Form der Krebsprävention kann ich nur jedem ans Herz legen, zumal sie gut verträglich ist.
Eins Ihrer Bücher heisst "Darüber spricht man nicht", erschienen vor mehr als fünf Jahren. Hat sich seitdem etwas getan? Was ist uns nach wie vor peinlich und was weniger?
In der Sprechstunde sind Menschen oft "gschamig", wenn sie sich für die Hautkrebsvorsorge ausziehen müssen. Hier hilft dann der Kalauer: "Keine Diagnose durch die Hose" (lacht). Nacktheit, einhergehend mit dem Gefühl, dass man vielleicht nicht den perfekten Körper hat, ist vielen Patienten unangenehm – gefördert durch Social Media und andere Medien. Dieser Perfektionismus ist schlimmer geworden.
Es gibt aber auch gute Entwicklungen: Die Menschen sprechen mittlerweile offener über Dinge wie Menstruation, Schnarchen, Körperhygiene oder Menopause. Weiterhin schambesetzt sind die Sexualität samt trockener Scheide und Erektionsstörungen und der Darm. Weil ich aber dafür bekannt bin, über diese Themen entspannt zu sprechen, habe ich das Gefühl, dass die Patienten in meiner Sprechstunde weniger Hemmungen haben. Diese Vertrauensbasis ist die Voraussetzung für den gemeinsamen Arzt/Patienten-Weg zur Heilung.
Sind sexuell übertragbare Erkrankungen nach wie vor Tabuthemen?
Sexuell übertragbare Erkrankungen sind, wenn sie dann da sind, sehr unsexy. Sie sind erst einmal peinlich und erworben, weil man vielleicht mal nicht aufgepasst hat – obwohl man gelernt hat, dass man Kondome nutzen soll. Allerdings schützen Kondome leider nicht vor allem. Besonders unangenehm wird es, wenn man seinen Partner oder seine Partnerin informieren muss, dass man sich woanders etwas eingefangen hat. Für viele der sexuell übertragbaren Erkrankungen gibt es gute Heilungschancen. Manche sind aber auch hartnäckig, andere wirklich gefährlich. Zum Beispiel können unerkannte Chlamydien zur Unfruchtbarkeit führen.
Wie sollte man damit umgehen, wenn man erkrankt ist?
Insbesondere, wenn man in eine neue Partnerschaft geht, ist es sinnvoll, dass sich beide untersuchen lassen. So kann verhindert werden, dass man etwas in die neue Beziehung "einschleppt". Im Denken rund um die Gesundheit geht es nicht nur darum, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, sondern natürlich auch für die Mitmenschen. Eine Erkrankung, die von alleine kommt, geht eben oft nicht von alleine wieder weg. Es bringt also nichts, eine Krankheit auszusitzen. Sie kann chronisch und unheilbar werden. Zudem geht eine Menge Lebensqualität verloren, wenn man still vor sich hin leidet.
Ganz anderes Thema: Sie haben kürzlich mit Ihrer Kollegin Julia Fischer den "Quizduell-Olymp" bereichert (noch abrufbar in der ARD-Mediathek; Anm.d.Red.). Können "Götter und Göttinnen in Weiss" vom Wissen her mit den "Quiz-Göttern" mithalten?
Es gibt tatsächlich alle Sorten von Ärzten. Darunter befinden sich viele umfänglich gebildete Ärzte, die neben ihrem Beruf die Zeit finden, zu lesen, in Konzerte zu gehen, selbst zu musizieren sowie originellen und traditionellen Hobbys nachzugehen. Aufgrund ihrer breiten Bildung können sie bestimmt mit dem "Quizduell-Olymp" auf Augenhöhe raten. Ich persönlich würde mich eher als Fachidiotin bezeichnen, die nur ihr Fach Gesundheit und Medizin beherrscht – das aber wirklich besonders gut. Bei allem anderen muss ich auf einen Erfahrungsschatz vertrauen, der eher aus meinem Bauch heraus entsteht. Trotzdem habe ich die Herausforderung natürlich gerne angenommen.
Der "Quizduell-Olymp" überrascht häufig mit genialen Antworten, Sie haben mit "Genial vital!" ein Buch mit dem Untertitel "Wer seinen Körper kennt, bleibt länger jung" veröffentlicht. Was kann man konkret tun, um den Alterungsprozess hinauszuzögern?
Die Wissenschaft sagt, dass man sein Leben mit Lebensstilmassnahmen bis zu 22 Jahre verlängern kann. Es geht aber nicht nur darum, das Leben zu verlängern, sondern es gesund zu verlängern. Wer es bis dahin schaffen möchte, muss etwas tun. Die Basis dafür ist, genau zu wissen, wie mein Körper, meine Zellen und meine Organe funktionieren. Wovon profitieren sie? Und was sollte ich weniger häufig tun?
Man hat es also grösstenteils selbst in der Hand?
Für Gesundheit und Langlebigkeit sind zu 10 bis 30 Prozent die Gene verantwortlich. Die restlichen 70 Prozent hat man selbst in der Hand. Allerdings spielen auch gewisse Umweltfaktoren hinein. Grundsätzlich ist es sinnvoll, sein Leben mit Körperwissen und Gesundheitskompetenz zu beeinflussen – indem man auf seine Ernährung achtet, ausreichend Eiweiss zu sich nimmt und sich viel bewegt. Wenn man Sport in Fläschchen abfüllen könnte, wäre es das Anti-Aging-Mittel schlechthin. Allerdings sollte man hier abwechslungsreich bleiben – von Ausdauer über Kraft bis hin zur funktionellen Bewegung. Auch der Schlaf zur Regeneration und die Sozialkontakte, die zur mentalen Gesundheit beitragen, sind wichtige Faktoren.
Braucht man keinen Arzt mehr, wenn man all diese Vorgaben beachtet – oder wäre das zu einfach?
Ich als Ärztin möchte den Menschen neben Heilung und Beratung vor allem Inspirationen geben, denn es gibt viel zu gestalten. So ist hier und da ein "Finetuning" ratsam. Eventuell braucht es ein paar "Supplements" – für den Fall, dass das Blut trotz gesunder Ernährung gewisse Mängel aufweist. Oft hat das damit zu tun, dass unsere Lebensmittel zum Teil nicht mehr reichhaltig genug mit Mikronährstoffen ausgestattet sind.
"Man ist nicht schuld daran, wenn man krank wird. Aber falls eine Krankheit auf einen gesunden Körper stösst, sind die Chancen höher, dass sie ausheilen kann oder man damit besser leben kann."
Zudem ist es wichtig, sich um die Darmflora zu kümmern. Sie ist die Zentrale in unserem Körper – für Botenstoffe, für unser Immunsystem und für die Versorgung mit kampfbereiten Bakterien an all unseren Körperflächen. Wenn das alles stimmt, haben wir gute Chancen, unser Schicksal günstig zu beeinflussen. Oder um es anders auszudrücken: Man ist nicht schuld daran, wenn man krank wird. Aber falls eine Krankheit auf einen gesunden Körper stösst, sind die Chancen höher, dass sie ausheilen kann oder man damit besser leben kann.
Über die Gesprächspartnerin
- Dr. Yael Adler ist eine deutsche Dermatologin und Bestseller-Autorin, die unter anderem die Bücher "Haut nah", "Darüber spricht man nicht. Weg mit den Körpertabus" und "Genial vital!" verfasst hat. Die in Frankfurt geborene Ärztin betreibt ein privatärztliches Zentrum für Haut, Venen & Lasermedizin in Berlin und gibt ihre Expertise zu Gesundheitsthemen über verschiedene Medien weiter.
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