Nur vier Jahre war das Schlafmittel "Contergan" auf dem Markt. Genügend Zeit, um das Leben von etwa 10.000 Kindern weltweit für immer zu verändern. Christian Knabe ist eines von ihnen. Uns erzählte der inzwischen 50 Jahre alte Münchner Pressefotograf und Künstler von seinem Schicksal und wie er heute damit lebt.

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Es ist ein schöner, ungewöhnlich warmer Novembertag. In einem Café in München sitzt ein Mann mit mittelblonden, kurzen Haaren, hoher Stirn und eckiger Brille. Langsam beugt er sich zu dem Tisch vor ihm hinunter - bis seine Nasenspitze fast die aufgeschäumte Milch des Cappuccinos in der grossen Kaffeetasse berührt. Mit seinen Händen, die fast direkt an den Schultern angewachsen sind, hebt er die Tasse etwas an, trinkt einen Schluck, dann beginnt Christian Knabe zu erzählen. "Der Jahrestag löst heute bei mir viel Arbeit aus, Pressearbeit. Früher jedoch habe ich mich an solchen Tagen schlecht gefühlt und gedacht, 'Wann hören die endlich auf, über dieses Thema zu reden? Mein Gott, jetzt bin ich schon wieder Opfer, jetzt muss ich schon wieder daran denken, dass ich eigentlich mit zwölf hätte sterben sollen'."

Solche Tage - damit meint der Münchner Pressefotograf und Künstler Tage, an denen der grösste Arzneimittelskandal in der Geschichte der Bundesrepublik wieder ins öffentliche Bewusstsein rückt. So ein Tag ist der 27. November. An diesem Datum vor genau 50 Jahren wurde das als völlig harmlos angepriesene Schlaf- und Beruhigungsmittel "Contergan" aus dem Handel genommen. Bis dahin hatte sein Hauptwirkstoff Thalidomid bereits bei rund 10.000 Säuglingen weltweit schwere Missbildungen des Körpers und/oder der inneren Organe verursacht. So auch bei Christian Knabe.

"Die Contergan-Katastrophe bestand aus zwei Teilen: Der erste Teil war die Missbildung, der zweite war der Umgang damit"

Am 11. Oktober 1961 kommt Christian Knabe in einem Krankenhaus in Mühldorf am Inn zur Welt. Gleich nach der Geburt wird klar, mit dem Jungen stimmt etwas nicht. An den Stellen, wo seine Arme sein sollten, ragen nur kurze Stümpfe mit grotesk verrenkten Händchen aus dem kleinen Körper. Christian Knabe ist ein Opfer von "Contergan".

"Die Missbildungen waren ein Teil der Contergan-Katastrophe", sagt der Fotograf heute, "der zweite Teil war der Umgang dami". Als er 18 Monate alt ist, wird der Junge mit hohem Fieber in eine Münchner Kinderklinik eingeliefert - dann bleibt plötzlich sein Herz stehen. "Während mein Vater mich durch eine Herzmassage wieder ins Leben zurückholte, füllte die Kinderärztin bereits einen Totenschein aus mit den Worten 'Ach, lassen Sie ihn sterben'".

Solche Erlebnisse nähren das Gefühl der Eltern, mit einem behinderten Kind von nun an Ausgestossene der Gesellschaft zu sein. Die Kinder wurden darauf trainiert, ihre Behinderung zu verbergen. "Es gab sogar die Idee, etwa künstliche Arme für den Alltag auf der Strasse zu bauen, damit man die kurzen Arme nicht sieht", erzählt Christian Knabe. Die qualvolle Prozedur, die er als Fünfjähriger über sich ergehen lassen musste, ist dem Münchner bis heute noch gut im Gedächtnis. "Um einen Körperabdruck von mir zu nehmen, wurde ich eingegipst, zweimal - und dieser Gipsabdruck war verdammt heiss", erinnert er sich. "Mithilfe dieses Abdrucks wurde dann eine Apparatur gebastelt, in die ich meinen Arm hineinlegen musste. Vorne wurde noch ein Stift dran geschraubt - damit sollte ich von nun an schreiben und zeichnen." Doch das fiel dem Kind, das mittlerweile gelernt hatte, mit seiner Behinderung zu leben, viel schwerer als ohne Prothese. "Es gibt keine Hilfsmittel für Contergan-Opfer. Aber das wollte man damals einfach nicht wahrhaben", sagt der 50-Jährige heute.

Auch die Möglichkeit, Contergan-Kindern könnten eine hohe Lebenserwartung haben, wurde damals nicht in Betracht gezogen. "Den Eltern erzählte man, ihre Kinder seien so schwach, dass sie spätestens mit zwölf Jahren sterben würden", berichtet der Münchner. Als die Kinder das Alter erreicht hatten, hiess es, mit 16 wäre es endgültig aus, später dann korrigierte man das Höchstalter erneut nach oben. Das hat Spuren hinterlassen - nicht nur bei den Eltern. "Mit Anfang 20 bekam ich eine Trigeminusneuralgie, eine Art Nervenentzündung. Dazu kamen noch starke Rückenschmerzen - mir ging es richtig elend. Und plötzlich fiel mir wieder ein, was man mir als Kind gesagt hatte: 'Ihr werdet mit zwölf sterben'", erzählt Christian Knabe. "Ich zog mich zurück, wollte keine neuen Freunde mehr kennen lernen. Ich wollte nicht, dass sie zusehen müssen, wie ich sterbe."

"Mein Vater hatte meiner Mutter die Tablette heimlich unters Essen gemischt. Ich habe ihm verziehen."

Heute ist Christian Knabe 50. Seinen Jahrestag feiert er im gleichen Jahr wie die Marktrücknahme von "Contergan". Dass sein Leben hätte anders aussehen können, wäre er nur wenige Monate später geboren worden, darüber macht sich der Fotograf jedoch keine Gedanken: "Es ist nun einmal so gewesen. Pech gehabt."

Bis er sein Schicksal so gelassen annehmen, seinen Körper akzeptieren konnte, war es ein langer Weg. "Das habe ich erst mit über 30 geschafft", sagt Christian Knabe. Davor lagen Phasen der Verzweiflung, der Bitterkeit und Wut. "Ich war wütend auf die Grünenthal (Pharmakonzern, der "Contergan" entwickelt und vertrieben hat, Anm. d. Red.), auf die Wissenschaftler. Diese Phase musste ich durchleben, um einen kühlen Kopf zu bekommen."

Auch seinen Eltern hat er schon lange verziehen. "Eines Tages, da war ich so 14 Jahre alt, hat sich mein Vater unter Tränen bei mir entschuldigt", erzählt der 50-Jährige mit zittriger Stimme. "Meine Mutter konnte damals nicht schlafen und wollte keine Medikamente nehmen. Der Arzt hat dann das Medikament meinem Vater gegeben und ihm gesagt, er solle es ihr heimlich unters Essen mischen. Das hat er getan. Und dafür hat er sich bei mir entschuldigt. Ich konnte ihm das verzeihen - selbstverständlich."

Die Frage nach einer möglichen Schuld oder einem Schuldigen ist für den Contergan-Geschädigten ohnehin zweitrangig. "Wir müssen uns jetzt vielmehr für die Öffentlichkeit sichtbar zusammensetzen und endlich Nägel mit Köpfen machen", sagt Knabe. Es ist höchste Zeit, dass etwas für die Opfer getan wird.

"Hören wir auf, uns zu schämen, weil wir Hilfe brauchen"

Bei vielen Contergan-Geschädigten ist inzwischen der Körper nahezu steif geworden, weil sie ihn zeitlebens überdehnt haben. Hinzu kommen noch unentdeckte Folgeschäden des Medikaments. So wie etwa ein Nervenschaden, der sich erst jetzt, nach Jahrzehnten bei einer Vielzahl der Opfer allmählich zeigt. "Beim Gehen ist mir plötzlich das Bein weggeknickt. Ich konnte es nicht mehr spüren", erzählt Christian Knabe. "Viele Contergan-Geschädigte haben mir ähnliches geschildert."

Die Hilfsbedürftigkeit nimmt zu, während das finanzielle wie medizinische Versorgungsnetz immer löchriger wird. Viele Regelungen sind längst veraltet und wurden getroffen, als man noch davon ausging, Opfer von "Contergan" hätten keine hohe Lebenserwartung. Wie viele andere fordert Christian Knabe daher eine Verbesserung der medizinischen Situation, ein umfassendes Informationssystem für Betroffene wie für Ärzte und natürlich eine finanzielle Absicherung, damit Contergan-Geschädigte nicht mehr von Sozialhilfe abhängig sind und sich selbst helfen können. "Hören wir endlich auf, uns zu schämen, weil wir Hilfe brauchen!"

Contergan - Die Fakten:

Am 1. Oktober 1957 bringt der deutsche Pharmakonzern Grünenthal das als hochwirksam und dabei als ausgesprochen verträglich ausgewiesene Beruhigungs- und Schlafmittel "Contergan" auf den Markt. Zwei Jahre später kommen bereits erste Verdachtsfälle auf, der Hauptwirkstoff Thalidomid könnte Nervenreizungen an Händen und Füssen auslösen.

Anfang der 1960er Jahre häufen sich Meldungen über Säuglinge, die mit Missbildungen der Organe und des Körpers geboren werden. Der Hamburger Kinderarzt Dr. Widukind Lenz ist der Erste, der diese Fehlbildungen mit dem Arzneimittel "Contergan" in Verbindung bringt. Am 16. November 1961 bringt Lenz seinen Verdacht bei Grünenthal vor. Elf Tage lang geschieht nichts. Erst auf massiven öffentlichen Druck hin und nach Erscheinen eines entsprechenden Zeitungsartikels in der "Welt am Sonntag" wird das Medikament am 27. November 1961 schliesslich vom Markt genommen. Bis dahin sind schon etwa 10.000 Kinder weltweit mit verkrüppelten oder gänzlich fehlenden Gliedmassen und/oder Organen zur Welt gekommen. Etwa die Hälfte von ihnen stirbt kurz nach der Geburt.

Am 27. Mai 1968 beginnt in Aachen der Prozess gegen neun leitende Mitarbeiter von Grünenthal. Er endet zwei Jahre später mit einem Vergleich: Die Eltern der Geschädigten erhalten vom Pharmakonzern eine Entschädigung in Höhe von 100 Millionen DM, eingezahlt in die "Conterganstiftung". Dafür verzichten sie auf weitere Klagen wie auf weitere Ansprüche. Am 18. Dezember 1970 wird der Prozess wegen geringfügiger Schuld der Angeklagten und wegen mangelnden öffentlichen Interesses schliesslich eingestellt.

Aufgrund der Contergan-Tragödie wird 1976 in Deutschland ein Arzneimittelgesetz erlassen, nach dem neue Präparate erst umfassend am Menschen getestet werden müssen, bevor sie auf den Markt kommen.

Thalidomid, der Hauptwirkstoff des "Contergan"-Mittels, wird heute zur Behandlung von Lepra, Krebs und AIDS eingesetzt. Wegen unzureichender Aufklärung, kommt es vor allem in Brasilien immer wieder zu Fehlbildungen bei Neugeborenen.

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