- Rund zwei Jahre, nachdem die WHO die Pandemie ausgerufen hat, zeigt das Nervenkostüm vieler Menschen Risse.
- Sorgen und Bedenken wegen unsicherer Zukunftsaussichten, Kontaktbeschränkungen, Isolation und Erkrankung haben sich in Kopf und Körper festgesetzt.
- Zuzanna Tkaczynska vom Universitätsklinikum Tübingen erklärt im Interview, wie wir unsere psychischen Abwehrkräfte stärken.
Frau Tkaczynska, Sie betreuen das Corona-Krisentelefon am Universitätsklinikum Tübingen. Wie geht es den Menschen, die bei Ihnen anrufen, rund zwei Jahre nach Beginn der Pandemie?
Zuzanna Tkaczynska: Die Menschen fragen sich vor allem, wie sie mit Ängsten umgehen sollen. Diese Ängste beziehen sich auf ganz unterschiedliche Bereiche, haben sich aber verschoben. Zu Beginn der Pandemie standen vor allem gesundheitliche Sorgen im Mittelpunkt. Wie schütze ich mich vor einer Erkrankung? Wie schütze ich meine Eltern und Grosseltern? Was kann ich tun, damit ich andere Menschen nicht unwillentlich anstecke? Das ist mittlerweile anders geworden.
Was beschäftigt Ihre Anrufer heute?
Momentan fragen sich viele, wie sie mit den Lockerungen zurechtkommen sollen.
Wie bitte? Haben nicht alle sehnlichst darauf gewartet, dass die Beschränkungen langsam aufgehoben werden?
Das schon. Viele sind mittlerweile auch geimpft und geboostert und vertrauen darauf, dass sie geschützt sind. Aber es ist schwer zu begreifen, dass Dinge, die zuvor gefährlich und deshalb verboten waren, jetzt erlaubt sind. Die Umstände ändern sich und dennoch fragen sich die Leute, ob zum Beispiel der Restaurant-Besuch jetzt wirklich unbedenklich ist. In diesem Verhalten kommt die dauerhafte Belastung zum Vorschein.
Worauf lässt sich dauerhafte Belastung hauptsächlich zurückführen?
Unabhängig von der individuellen Lebenssituation mit Homeoffice, Homeschooling oder Ängste um Job und Finanzen waren wir alle einer Belastung durch die Reduktion ausgesetzt. Plötzlich und dauerhaft auf soziale Kontakte verzichten zu müssen, setzt uns zu. Diese Reduzierung diente auch der Kontrolle über die Angst. Gleichzeitig entwickelten viele während ihres Rückzugs depressive Symptome. Das ist auch kein Wunder, denn der Verzicht auf Kontakte mindert unsere Lebensqualität. Das ist nicht anders als bei anderem Stress.
Sind die Reaktion heute andere als vor zwei Jahren?
Anfangs sind uns die Folgen sehr klar gewesen, weil sie so abrupt einsetzten: Wir haben schlecht geschlafen, zu viel gegessen, waren plötzlich sehr gereizt. Je länger ein belastender Zustand aber anhält, desto mehr gewöhnen wir uns an ihn und nehmen den Stress nicht mehr wahr.
Heisst das, wir gewöhnen uns auch an die Konsequenzen, die der Druck bei uns auslöst?
Ja, zum Teil merken die Menschen nicht, wie ihre Denkweise immer negativer wird und das Gefühl der Hilflosigkeit sich festsetzt. Plötzlich blickt man pessimistisch in die Zukunft, obwohl man vor der Pandemie ein fröhliches Naturell hatte. Das ist auch deshalb schädlich, weil Psyche und Körper untrennbar zusammengehören. Leidet die Psyche, leidet irgendwann auch der Körper.
Was ist also die Lösung? Viele verdrängen ihre Ängste ja ...
Verdrängung ist keine gute Idee. Um zu verdrängen, muss man seine Gedanken zunächst auf die Gefahr richten. Je dauerhafter man das macht, desto länger erscheinen die Umstände gefährlich und desto starrer werden die eigenen Grundannahmen.
Wie kann man sich das vorstellen?
Wenn man Angst hat, werden Nachrichten über Erkrankungen und Todesfälle im Zusammenhang mit der Pandemie einen stärkeren Eindruck hinterlassen als positive Geschichten über genesene Patienten und Patientinnen. Das stärkt die Grundannahme über die Gefährlichkeit der Krankheit, sodass man in einen Teufelskreis gerät.
Welchen Umgang mit der Angst schlagen Sie also vor?
Die Angst zu akzeptieren und zu verstehen, dass der Mensch sich trotz seiner Angst entspannen und Inseln ohne Angst erschaffen kann.
Wie sehen solche Inseln typischerweise aus?
Es schadet sicherlich nicht, weniger Zeit mit dem Handy und mit Nachrichten zu verbringen. Ob man stattdessen mehr Sport macht oder zum Yoga geht, Musik hört oder eine Tasse Tee geniesst, muss jeder für sich selbst herausfinden. Alles, womit man sich bewusst etwas Gutes tut, ist hilfreich. Und wenn es nicht mehr anders geht, muss ich mir Unterstützung suchen und mich mitteilen.
Wie kann man Betroffenen helfen, die in genau diese Situation kommen und einem von ihren Ängsten erzählen?
Hören Sie genau zu und erfragen Sie, worum es im Kern geht. Argumentieren Sie nicht aus Ihrer eigenen Erfahrung heraus. Jeder Mensch erlebt und fühlt anders. Fragen Sie, ob Sie etwas tun können und ob Freunde oder Verwandte mehr brauchen als ein Gespräch. In schweren Fällen ist auch professionelle Hilfe notwendig.
Und wie lässt sich ein schwerer Fall erkennen?
Wenn somatische, also körperliche Symptome auftreten. Wenn etwa an erholsamen Schlaf nicht mehr zu denken ist oder der Betroffene stark zu- oder abgenommen hat. Auch Atemnot ist ein Hinweis, genauso wie starke Gereiztheit, die länger als zwei Wochen anhält. Der Weg zum Psychologen führt dann über den Hausarzt, der eine Überweisung ausstellt.
Was passiert, wenn zu den allgemeinen Ängsten auch noch die angeordnete Quarantäne und absolute Isolation hinzukommt?
Die Umstellung auf Homeoffice und Zoom-Konferenzen, auf das ununterbrochene Beisammensein mit der Familie und dem Partner unter einem Dach ging ohnehin mit einer Dauerbelastung einer. Die kurzfristige Quarantäne führt bei manchen Menschen hingehen sogar zu einer Entlastung.
Das hört sich widersprüchlich an.
Nur im ersten Moment. Wenn man akzeptiert, dass man zwei Wochen lang nichts tun kann und nichts tun muss, erlaubt man sich auch endlich loszulassen.
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