Alkohol gehört für die meisten von uns einfach dazu: Hier mal ein Feierabendbier, dort ein Sekt zum Anstossen. Wenn es nach Eckart von Hirschhausen geht, sollten wir das allerdings dringend ändern, denn er sagt klipp und klar: "Alkohol ist kein Grundnahrungsmittel, Alkohol ist ein Gift." Im Interview erklärt der Arzt und Moderator, wo die Sucht anfängt und warum der Alkohol unseren Alltag dominiert.
Welche Rolle spielt der Alkohol in unserem Leben? In der ARD-Dokumentation "
Über den Gesprächspartner
- Dr. Eckart von Hirschhausen ist ein deutscher Arzt, Fernsehmoderator, Kabarettist, Wissenschaftsjournalist und Autor. Von 2010 bis 2022 moderierte er die Samstagabendshow "Frag doch mal die Maus" und präsentierte zuletzt die Samstagabendshow "Was kann der Mensch?". Darüber hinaus ist er in der ARD-Wissenssendung "Wissen vor acht" zu sehen.
Herr von Hirschhausen, hier ein Feierabendbier, da einen Belohnungswein nach einem stressigen Tag. Alkohol ist die Volksdroge Nummer eins – werden Alkoholkonsum und die damit einhergehenden Risiken in unserer Gesellschaft zu sehr verharmlost?
Eckart von Hirschhausen: Ja. Alkohol ist, was das Krebsrisiko angeht, in einer Kategorie mit Asbest und Rauchen. Konkret: Eine Flasche Wein hat für eine Frau im Hinblick auf ihr Brustkrebsrisiko die Wirkung von zehn Zigaretten. Ich hatte auch nicht auf dem Schirm, dass Alkohol eine Hauptursache für Herzrhythmusstörungen ist, dass 80 Prozent der Alkoholabhängigen in Deutschland keine Entzugserscheinungen haben und wie wenige tatsächlich Hilfe suchen und finden.
Was mich auch überraschte, wie miserabel unsere Gesetzgebung ist, historisch und aktuell. Nirgendwo in Europa ist es so einfach und billig, an Alkohol zu kommen und sich zu betrinken. An jeder Tankstelle bekommt man Bier, Wein und Hochprozentiges. Andere Länder regeln den Zugang, das Alter, die Preise – wir nicht. Und dafür zahlen viele Menschen einen sehr hohen Preis.
Wann fängt Alkoholsucht an?
Der Übergang ist schleichend. Und wir reden uns ja gerne heraus, indem wir auf jemanden zeigen, der mehr trinkt als wir. Gesoffen wird in allen Gesellschaftsschichten. Und dem Suchtgedächtnis ist es auch völlig egal, ob die Promille aus einem Korn für zwei Euro oder aus einem Bordeaux für 200 Euro kommen. Gerade frühe Rauscherfahrungen prägen sich ein. Deshalb ist das "begleitete Trinken ab 14 Jahren" auch so ein gefährliches Signal. Gerade in der labilen Phase von Pubertät und Identitätssuche tut man so, als wäre der Vollrausch das entscheidende Kennzeichen fürs Erwachsenwerden. Und da ist derjenige, der Nein sagt, dann schnell der Spielverderber.
Im Rahmen der ARD-Reportage "Hirschhausen und die Macht des Alkohols" haben Sie mit Suchtkranken gesprochen, Expertengespräche geführt und sind tief in die Datenlage eingestiegen. Was haben diese unterschiedlichen Begegnungen mit Ihnen gemacht?
Die vielen Schicksale in diesem Film haben mich wirklich bewegt. Von den tristen Figuren in den Kneipen von St. Pauli, über die Angehörigen, die ihr jahrelanges stilles Leiden durchbrechen, bis zur Suchtklinik in Mannheim, die mit neuen Methoden wirksamere Hilfsangebote macht als früher. Ich hatte in meiner Zeit in der Kinderheilkunde mit schwer alkoholgeschädigten Kindern zu tun. Das vergesse ich nie. Egal wie viel man an Diagnostik, Behandlung, Zuwendung und auch oft Fremdbetreuung dort versucht - was einmal im Hirn ganz früh kaputtging, bekommt man nie wieder zurück. Ich spreche mit Jenny, sie hat erst mit 30 Jahren die richtige Diagnose bekommen und wir treffen gemeinsam einen der wenigen Experten für ein Gutachten.
Das fetale Alkoholsyndrom scheint für die Betroffenen ein Leid mitzubringen, das häufig im Verborgenen stattzufinden …
Bis zu 4.000 Neugeborene kommen jedes Jahr wie Jenny mit fetalem Alkoholsyndrom auf die Welt, 10.000 haben leichtere, aber auch lebenslange Schäden – viel zu viele bleiben unerkannt. Neben all dem oft unsichtbaren Leid ist es auch noch unfassbar teuer. Rechnet man alle Kosten im Gesundheitssystem, für die Pflegeeltern, die schwierige Beschulung, das Justizsystem inklusive der Gefängnisaufenthalte, Arbeitsausfälle und und und hoch, kommt man auf etwa 17 Milliarden allein für das fetale Alkoholsyndrom im Jahr. Hinzu kommen geschätzte 60 Milliarden Schaden durch den Alkohol in der Gesamtbevölkerung. Dem gegenüber stehen die lächerlichen Steuereinnahmen von drei Milliarden und was ich nicht wusste: Auf Wein gibt es gar keine Steuer.
In einer Gesellschaft, in der Alkoholkonsum bagatellisiert wird, gilt Nüchternheit gewissermassen als rebellischer Akt. Haben Sie den Eindruck, dass sich trinkende Menschen von nüchternen gestört fühlen?
Gegenfrage: Wie viele Menschen kennen Sie, die durch Alkohol interessanter werden? Ich kenne viele Leute, die das von sich glauben. Aber erlebt habe ich es nie. Ich feiere gern, ich trinke dann auch Bier, Wein oder stosse mit Sekt an. Singen, Musik machen, Tanzen, "Ekstase" gibt es in allen Kulturen der Welt, zu allen Zeiten. Es tut gut, ab und an "die Sau rauszulassen", gerade in belastenden Zeiten wie diesen – als Gegenstück zum Alltag. Wenn Alkohol aber den Alltag bestimmt, ist das kein Grund mehr zu feiern, sondern sich Hilfe zu suchen. Und um auf ihre Frage zurückzukommen: Es gibt sicher mehr nüchterne Menschen, die von Betrunkenen belästigt, gestört oder in Schlägereien und Unfälle verwickelt wurden als andersherum.
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Welche Rolle spielen Film und Fernsehen, wenn es darum geht, Alkoholgenuss zu idealisieren?
Die Alkohollobby darf mit 200-mal so viel Geld Werbung machen wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Da ist es nicht so überraschend, dass wir alle Bilder in unserem kollektiven Gedächtnis haben, wie angeblich Rum und Bier uns Zugang verschafft zu grossen Segelschiffen und erotisierenden Partys auf tropischen Inseln. Schaut man aber in die leeren Gesichter hinter den leeren Flaschen, ist da wenig von Freiheit zu spüren, und noch weniger Erotik.
Wo erleben Sie im Alltag die "Macht des Alkohols"?
Überall! Im Wahlkampf im Bierzelt, oder wenn jemand beim Motorsport gewinnt und selbstverständlich mit Champagner duscht, oder auch in jedem Supermarkt, wo Hunderte von alkoholischen Getränken scheinbar harmlos neben Nudeln und Reis stehen, prägt sich von Kind auf an ein: Alkohol ist ein Grundnahrungsmittel, ein fester Bestandteil von jedem Tag, und wer da nicht mitmacht, ist nicht normal.
Wir Menschen sind soziale Wesen, wir wollen dazugehören und machen, was andere machen, folgen unbewusst sozialen Normen. Aber Alkohol ist kein Grundnahrungsmittel, Alkohol ist ein Gift. Wenn man alle Schäden zusammenzählt, ist Alkohol durch die hohe Verbreitung die gefährlichste Droge der Welt. Wir reden über Drogentote, regen uns über unausgegorene Cannabis-Gesetze auf, wann reden wir endlich darüber, wie miserabel Menschen in Deutschland vor Schäden durch Alkohol geschützt sind.
Alle Jahre wieder nutzen viele Menschen den Jahresauftakt für den sogenannten Dry January, ehe in den meisten Fällen ab Februar dann wieder Alkohol konsumiert wird. Wie stehen Sie zu Challenges wie dem Dry January?
Ich trinke selbst im Januar den ganzen Monat keinen Alkohol. Wer das für sich mal ausprobieren möchte, hat dafür ja elf weitere Monate im Jahr zur Auswahl, muss ja nicht gleich zu Karneval sein oder für die Menschen in Bayern das Oktoberfest. In der Generation der heute 20- bis 30-Jährigen trinkt ungefähr ein Drittel gar keinen Alkohol mehr. Auch mehr und mehr Erwachsenen sagen, ich brauche gar keinen Alkohol in meinem Leben. Nicht als "Verzicht", sondern als Lebensqualität.
Wie kann man es als suchterkrankter Mensch aus diesem Teufelskreis herausschaffen? Immerhin wird man im Alltag an gefühlt jeder Ecke mit Alkohol konfrontiert …
Im Film zeigen wir, dass es in der Klinik eine Bar gibt! Das Prinzip dahinter leuchtet sofort ein. Nach Entzug und Therapie in der Klinik lauern die grossen Versuchungen zu Hause, wenn man wieder in sein gewohntes Umfeld kommt. Und genau dafür werden realistische Situationen geprobt und trainiert: Wie halte ich dem Verlangen nach meinem Lieblingsdrink stand? Dazu gibt es neue Apps, die einem im Alltag helfen, nicht rückfällig zu werden. Das Handy hat man ja immer dabei, auch wenn kein Therapeut oder Freund in der Nähe ist.
Was wünschen Sie sich bezüglich der Sensibilisierung rund um die Gefahren von Alkohol?
Dass wir darüber sprechen! Genau dafür mache ich diese Reportagen. Um neue Perspektiven anzubieten. Um hinter die Kulissen und hinter die Mechanismen der Gesellschaft und der Lobbygruppen zu blicken. Dann kann sich jeder, der zuschaut, seine eigene Meinung bilden. Das ist uns bei ADHS, bei der Abnehmspritze und Long Covid gelungen. Und ich glaube, "Hirschhausen und die Macht des Alkohols" hat wieder das Zeug dazu, viele Millionen Menschen zu erreichen. Darauf wette ich einen Kasten Bier. Alkoholfreies natürlich!
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