Wenn Typ-1-Diabetiker kein Insulin mehr spritzen, dann nehmen sie ab. Wenn sich daraus eine Essstörung entwickelt, spricht man von Diabulimia. Der Körper reagiert auf den Insulinverzicht mit heftigen Symptomen, die bis zum Koma und Tod führen können. Betroffen sind vor allem junge Frauen.
Als sie die Diagnose Diabetes bekam, war Lisa Schütte zehn Jahre alt. "Ich kam damit zunächst gut klar", sagt die heute 28-Jährige aus Hannover, die in ihrem Blog über Essstörungen bei Diabetes schreibt.
Diabetes Typ 1, unter dem Lisa Schütte leidet, tritt oft bereits bei Kindern und Jugendlichen auf.
Der Körper produziert zu wenig oder gar kein Insulin mehr. Das Hormon ist aber wichtig für den Stoffwechsel. Deshalb lernen Diabetiker, sich künstlich hergestelltes Insulin zu spritzen.
In der Pubertät entwickelte Lisa dann eine heftige Essstörung. "Ich war eigentlich immer untergewichtig, auch vor der Diagnose", sagt sie. In der Pubertät nahm sie dann zu. "Teilweise war ich da sogar übergewichtig."
Nachts war Lisa Schütte damals oft unterzuckert. Das ist bei Mädchen in der Pubertät nicht selten.
"Meine Mutter hat mich teilweise dreimal in der Nacht geweckt und den Zucker gemessen" sagt sie. "Wenn er zu niedrig war, hat sie mir Saft oder Butterbrote gegeben."
Dadurch stieg ihr Gewicht weiter. "Und daran habe ich dem Diabetes die Schuld gegeben."
Um abzunehmen, machte Lisa Schütte Sport und versuchte weniger zu essen. "Das ging mir einfach zu langsam", sagt sie. "Und dann habe ich mich daran erinnert, dass ich vor der Diagnose ja auch schlank gewesen war."
Sie fing an, bewusst weniger Insulin zu spritzen, um abzunehmen. Schliesslich spritzte sie gar nicht mehr. Ein gefährlicher Weg. Er endete im Krankenhaus.
"Wenn Diabetiker auf Insulin verzichten, um abzunehmen, dann ist das gefährlich", erklärt Professor Dr. Thomas Huber. Er ist Chefarzt der Klinik am Korso in Bad Oeynhausen, die auf Essstörungen spezialisiert ist.
Diabulimie gilt als eine der gefährlichsten Essstörungen
Diese Form der Essstörung, die bei Diabetikern auftritt, wird der Bulimie zugerechnet, weil sie häufig kombiniert mit Essattacken auftritt. Fachleute bezeichnen sie als Diabulimie oder Diabulimia.
Sie gilt als eine der gefährlichsten Essstörungen und tritt vor allem bei Frauen in der Pubertät auf.
"Wenn Diabetiker kein Insulin spritzen, dann ist das Krankheitsbild dasselbe wie bei einem unbehandelten Diabetes", sagt Prof. Dr. Huber.
Der Körper benötigt das Insulin, um Zucker durch die Blutbahn zu den Zellen zu transportieren. "Man kann sich das wie kleine Lkws vorstellen, die den Zucker zu den Zellen fahren", sagt Huber.
Ohne Insulin funktioniert das aber nicht – dem Körper fehlt Energie, die Betroffenen nehmen ab. Der Körper versucht darüber hinaus, den überschüssigen Zucker über die Niere auszuscheiden, was den Körper belastet.
Lisa Schütte spürte als Jugendliche schnell, dass sie ihrem Körper mit dieser Vorgehensweise, die man auch Insulin-Purging nennt, keinen Gefallen tat.
"Ich hatte immer Durst, Kopfweh und Ekzeme am ganzen Körper." Wunden blieben offen, Haare fielen aus, Nägel brachen. "Mir war klar, dass es gefährlich ist, was ich tue", sagt sie. "Aber ich habe diese Gedanken immer schnell weggedrückt."
Ihrem Umfeld fiel die Veränderungen auf - allerdings negativ. "Ich habe viele Komplimente bekommen, weil ich abgenommen hatte", sagt Lisa Schütte, die heute studiert.
"Ich habe bis zuletzt dreimal die Woche Sport gemacht. Oft musste ich mich danach übergeben - aber habe das immer auf den Diabetes geschoben." Nur ihre Mutter ahnte etwas. Die Jugendliche wies aber alles von sich.
Wie schlimm es um sie stand, merkte Lisa Schütte erst, als sie eines Morgens im Krankenhaus aufwachte. Das war 2013. Sie hatte durch ihre dauerhaft hohen Blutzuckerwerte einen Schock erlitten, war sogar ins Koma gefallen.
Ihre Mitbewohnerin und beste Freundin hatte sie gefunden. "Als ich aufwachte, hing ich an Geräten", sagt sie. "Mir war sogar ein Katheter gelegt worden. Ich dachte die ganze Zeit nur: 'Oh Gott, oh Gott.'"
Dann sass ihre Mutter an ihrem Bett, den Tränen nahe. "Da habe ich gedacht: 'Was habe ich nur gemacht? Ich muss damit aufhören!'", sagt Lisa Schütte.
Spätfolgen der Krankheit können erheblich sein
Den Weg aus der Krankheit fand sie erst mit Hilfe einer Therapeutin: "Ich kann nicht einmal sagen, dass ich für mich selbst aufgehört habe. Es war eher das Gefühl, dass ich es meinen Eltern, meinem Freund und meiner besten Freundin nicht antun kann."
Auch heute bezeichnet sie sich noch als "gefährdet". Ihren Blog schreibt sie, um anderen Betroffenen zu helfen – und um Ärzte über die Krankheit zu informieren.
"Das Krankheitsbild ist leider bislang nicht so bekannt", sagt Professor Huber. Wenn junge Frauen kein Insulin spritzten, werde das in der Pubertät zudem oft als eine Art Null-Bock-Phase abgetan.
Dabei können die Spätschäden erheblich sein: "Abgesehen vom Risiko eines diabetischen Schocks drohen beispielsweise Schäden an den Knochen und Erblindung."
Diabetiker sind laut Huber besonders gefährdet, Essstörungen zu entwickeln, weil sie sich durch ihre Krankheit intensiv mit ihrem Essen beschäftigen müssen. Sie müssen berechnen, was sie gegessen haben, um sich die passende Menge Insulin zu spritzen.
"Der Umgang mit dem Essen verliert seine Gelassenheit und Entspanntheit", sagt Huber. "Das ist ein Risikofaktor."
Betroffene bei Symptomen behutsam ansprechen
Oft sind Betroffene nicht einsichtig und spielen, wie Lisa Schütte, die Symptome herunter - das ist typisch bei Essstörungen.
Zu den frühen Symptomen der Diabulimie gehören beispielsweise Durst, häufige Toilettengänge, sozialer Rückzug und Erschöpfung.
Wenn Angehörige oder Freunde solche Symptome beobachten, sollten sie dies behutsam ansprechen, rät Huber: "Nicht übermässig nachbohren, sondern Verständnis zeigen und Hilfe anbieten. Eine Freundin kann zum Beispiel anbieten, dass sie mit zu einer Beratungsstelle geht."
Manchmal bringen allerdings nur harte Einschnitte ein Umdenken. "Wäre ich damals nicht umgekippt, hätte ich einfach weitergemacht. Wahrscheinlich würde ich heute noch kein Insulin spritzen", sagt Lisa Schütte. "Ich wäre damals gar nicht empfänglich für Bedenken von aussen gewesen."
Verstanden hätte sie sich allerdings von anderen Diabetikern gefühlt, glaubt sie: "Hätte ich die Chance gehabt, mit einem Diabetiker zu sprechen, hätte ich vielleicht gemerkt, was ich da mache", sagt sie. Heute versucht sie durch ihren Blog diese Person für andere Diabetiker zu sein und ihnen zu helfen.
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