• Zumeist Mädchen und Frauen leiden unter einer Essstörung.
  • Ob und wie Corona diese Zahl beeinflusst, ist unklar.
  • Das Umfeld kann die Betroffenen unterstützen.
Ein Interview

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Eine Essstörung kann man nicht einfach wegtherapieren. Sie verfolgt einen ein Leben lang. Wann eine solche beginnt und ob sich Corona negativ oder auch positiv auf unser Essverhalten auswirkt, erklärt Prof. Martin Teufel vom Institut der Universität Duisburg-Essen im Interview.

Eine Packung Chips am Tag – ist das schon eine Essstörung?

Prof. Martin Teufel: Ja, das kann darauf hindeuten. Charakteristische Zeichen sind in einem Runterschlingen und die Wiederholungen. Das Essverhalten ist gestört, wenn es entweder zu vermehrter oder zu verminderter Kalorienaufnahme kommt.

Es passiert meist impulsiv oder zwanghaft, wenn also zum "gewöhnlichen" Essen eine affektive Komponente dazukommt. Manche Patienten essen nachts den Kühlschrank leer, andere drei Tage lang immer nur einen Apfel.

Haben Sie seit Corona mehr Patienten?

Bei uns ist bislang kein Anstieg spürbar. Es gibt auch Deutschlandweit keine Zahlen. Wir haben in einer Studie 25.000 Leute befragt, alle bezeichneten sich als belastet und hatten Ängste. Auch zeigten sich zwei Subtypen: Die einen essen weniger durch den Stress, 80 Prozent essen mehr. Wir wissen aber nicht, ob die vorher eine Essstörung hatten.

Hatte ich die, behalte ich die jetzt meistens bei. Das liegt nahe. Aber manchen geht es dank Corona auch besser: Durch den Lockdown haben sie nicht mehr so viel Druck, sie können sich daheim entspannen.

Je stärker die Essstörung, desto irreversibler die Schäden im Magen-Darm-Bereich

Wie reagiert der Körper auf ein gestörtes Essverhalten?

Wenn ich hungere – egal ob übergewichtig oder untergewichtig – schüttet mein Körper ein Appetithormon aus und das Hungergefühl wird mehr. Dann esse ich. Das wäre gesund und normal. Aber hier kommt irgendwann der Durchbruch und ich esse ganz viel.

Leide ich unter einer solchen Störung, verändert sich die Entleerungszeit des Magens sowie die Verdauung. Unsere Patienten berichten dann von Schmerzen im Magen-Darmbereich, wenn sie wieder essen lernen müssen. Je stärker und chronischer die Essstörung, desto irreversibler die Schäden.

Welche Formen der Essstörung gibt es?

Im Untergewichtsbereich gibt es zwei: Bei der restriktiven Anorexie, wird nichts bis wenig gegessen. Die Kalorienaufnahme sinkt und damit auch der BMI unter 17,5. Hier spielen das Körperschema und eine Gewichtsphobie eine Rolle. Es geht um Perfektionismus und ein niedriges Selbstwertgefühl. Viele treiben sehr viel Sport.

Bei der Binge-Purging-Form der Anorexie kommt es dagegen zu Essanfällen mit Erbrechen. Oder man nimmt Medikamente wie Abführmittel oder Diuretika. Auch hier ist ein Sportdrang charakteristisch.

Im Normalgewichtsbereich ist es die Bulimie: Es sind Essanfälle mit anschliessendem Kompensationsverhalten, wobei Erbrechen das häufigste ist. Manche bewegen sich auch mehr. Hier sind das Körpergewicht und die Angst vor dem Zunehmen wichtig.

Im Übergewichtsbereich kommt es bei der Binge-Eating-Störung zu keinem kompensatorischen Verhalten und der Patient wird übergewichtig. Hier reicht ein Essanfall pro Woche aus, um die Diagnose zu stellen. Allerdings müssen dann auch typische Gefühle wie Einsamkeit, Scham oder Depressivität mitmischen.

Wer ist betroffen?

Gerade bei der bei Anorexie und Bulimie sind es zu 95 Prozent Frauen, im Übergewichtsbereich sind es 20 bis 30 Prozent Männer. Typischerweise tritt eine Essstörung in der Adoleszenz oder im frühen Erwachsenenalter auf.

Ältere Betroffene kommen oft selbst wieder heraus. Aber auch nach der Heilung kann man nie wieder so frei essen. Die Gedanken kreisen immer um die Kalorien. Die Anorexie ist die psychische Erkrankung, an der die meisten Leute sterben. Es sind etwa zehn Prozent.

Die Binge-Eating-Störung ist in Deutschland am häufigsten

Und welche ist in Deutschland die häufigste?

Hierzulande sind etwa 40 Prozent übergewichtig und mehr als 20 Prozent adipös. Von denen haben etwa fünf Prozent die Binge-Eating-Störung. Sie ist aber auch die am Wenigsten erkannte und behandelte.

Danach folgt wohl die Bulimie, aber oft bekommt noch nicht einmal der Partner etwas davon mit. Die mit Abstand seltenste Form der Essstörung ist die Magersucht mit nur etwa ein bis zwei Prozent. Man sieht sie den Menschen an.

Zugenommen haben ganz klar die atypischen Essstörungen. Sie treten oft nur zwischendurch auf, mal isst man gar nichts, mal erbricht man, mal geht’s wieder gut. Man bleibt auch nicht bei einer Störung. Oft fliest die eine in die andere über mit verschiedenen Formen und Phasen auf dem Weg zur Gesundung.

Wie sollte das Umfeld reagieren?

Oft hat die Familie starke Schuldgefühle. Aber das bringt nichts. Es hilft auch wenig, Druck zu machen, zu sagen "Iss, iss, iss" und daneben zu sitzen. Es gibt darum, die Hemmschwellen abzubauen. Der erste Schritt sollte Offenheit signalisieren: Gibt’s was, bei dem ich den Betroffenen unterstützen kann?

Und im zweiten Schritt sollte man die eigene Sorge formulieren und nach Angeboten suchen. Die meisten Betroffenen öffnen sich jetzt. Bei den schwierigen Fällen muss man klar sagen, ich helfe dir jederzeit aber so geht’s nicht weiter. Denn die Angehörigen dürfen nicht in ein System reinkommen, bei dem sie nur zuschauen. Man sollte den Hausarzt einbeziehen.

Wie läuft Ihre Hilfe ab?

Eine Essstörung ist meistens ein Symptom von etwas anderem. Also schauen wir, wie es dem Patienten geht. Wie läuft es so im Leben? Was steht an? Was belastet ihn? Danach gehen der Patient und ich das Essverhalten durch.

Schon das kann befreiend wirken, weil ja sonst alles heimlich passiert. Sieht der Patient, dass es anderen ähnlich geht, kann das auch helfen. Danach schauen wir, welche Form der Essstörung es ist und welche Hilfsangebote die richtigen sind.

Prof. Martin Teufel ist der Direktor der Essener Klinik für Psychosomatische Medizin und Mitglied bei der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin (DGPM) sowie der Deutschen Gesellschaft für Essstörungen (DGESS).
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