Manche Menschen können sich an jeden einzelnen Tag aus ihrem Leben erinnern – sie haben ein ganz besonders ausgeprägtes Gedächtnis. Das bringt aber nicht unbedingt Vorteile mit sich - das sogenannte HSAM Syndrom empfinden viele soger eher als Belastung.
Vermutlich wissen Sie noch recht genau, was Sie gestern gemacht haben. Aber wie sieht es mit einem Tag aus, der bereits eine Woche oder sogar einen Monat zurückliegt? Und was könnten Sie auf die Frage antworten, was Sie beispielsweise am 1. November 2005 getan haben?
Die meisten Menschen würden wohl mit den Schultern zucken: Wenn an einem Tag, der so weit in der Vergangenheit liegt, nichts Besonderes passiert ist, dann wissen wir in der Regel nicht mehr, was wir damals gemacht haben.
Bei manchen Menschen ist das aber anders: Sie können nicht nur rekonstruieren, was sie an einem beliebigen Tag in ihrem Leben getan haben, sondern wissen zum Beispiel auch, welche Kleidung sie getragen haben. Sie erinnern sich an diesen Tag, als würden sie ihn gerade erleben.
Wissenschaftlich wird das Phänomen als HSAM bezeichnet. Die Abkürzung steht für ein weit überlegenes autobiographisches Gedächtnis ("Highly Superior Autobiographical Memory"). Das ausgesprochen gute Gedächtnis bezieht sich vor allem auf Ereignisse aus dem eigenen Leben. Viele Betroffene erinnern sich aber auch gut an Geschehnisse aus der Weltgeschichte – vor allem dann, wenn sie emotional darauf reagiert haben.
Das Phänomen wurde erst vor Kurzem entdeckt
Das Phänomen HSAM ist erst seit Anfang der 2000er Jahre bekannt. Damals meldete sich eine Frau namens Jill Price bei dem amerikanischen Forscher Jim McGaugh. Sie schilderte ihm, dass sie sich an jedes Detail aus ihrem Leben erinnern könne. Das weckte sein Interesse und er untersuchte sie. Seine Tests bestätigten ihr ausgeprägtes Gedächtnis.
Weltweit weiss man inzwischen von rund 60 Menschen mit HSAM. Der Gedächtnisforscher und Psychologe Hans Markowitsch, emeritierter Professor der Universität Bielefeld, schätzt aber, dass die Dunkelziffer weit höher ist. "Manche Menschen wissen gar nicht, dass es etwas Besonderes ist, sich so detailliert erinnern zu können", sagt er.
"Ich habe selbst einmal einen Mann untersucht, der von HSAM betroffen war. Er konnte sich nicht nur an Ereignisse aus seinem Leben erinnern, sondern auch an sehr viele allgemeine Daten", schildert Markowitsch. Oft setze HSAM bereits in der Kindheit ein und bleibe dann ein Leben lang erhalten.
Die Ursache ist bislang noch unbekannt
Wie es zu dem Phänomen kommt, ist noch nicht geklärt. Untersuchungen zeigen allerdings gewisse Unterschiede im Gehirn von HSAM-Personen im Vergleich zu normalen Menschen. Recht häufig gibt es zum Beispiel Veränderungen an der Amygdala und an weiteren Bereichen, die an der Verarbeitung und dem Erinnern von Emotionen beteiligt sind.
Wissenschaftler entdeckten solche Veränderungen an unterschiedlichen Stellen im Gehirn. Es scheint also nicht eine einzige Region zu geben, die an dem besonderen Gedächtnis beteiligt ist. Gedächtnisforscher und Psychologe Markowitsch sagt: "Darüber hinaus ist nicht klar, ob die Menschen sich auf diese Weise erinnern, weil ihr Gehirn anders funktioniert – oder ob ihr Gehirn sich erst infolge ihres speziellen Erinnerungsvermögens so ausgebildet hat."
Das gute Gedächtnis bietet häufig keine Vorteile
Einen wirklichen Vorteil bietet das ausgezeichnete Gedächtnis für die meisten Menschen nicht, denn die Nachteile überwiegen. Überdurchschnittlich häufig leiden sie zum Beispiel an Schlafstörungen, Ängsten, Depressionen und Zwangserkrankungen. "Ich vermute, dass das etwas mit der Weise zu tun hat, wie ihr Gehirn funktioniert", sagt der Gedächtnisexperte. Seine Theorie ist, dass die rechte und linke Gehirnhälfte anders zusammenarbeiten als bei Menschen ohne HSAM.
Nach Ansicht des Gedächtnisforschers ist es deswegen auch gar nicht wünschenswert, sich an jedes Detail aus dem Leben zu erinnern. "Es ist wichtig, dass Menschen vergessen können, um ein normales Leben zu führen", sagt er. Wenn man sich an sehr viel auf einmal erinnere, seien Prioritäten nicht klar: "Wir erinnern uns normalerweise nur an das, was wichtig ist."
Zudem sind laut Markowitsch bei HSAM die meisten Erinnerungen sehr intensiv und häufig auch emotional besetzt. "Das kann es ähnlich wie bei traumatischen Erinnerungen erschweren, einen normalen Alltag zu leben." Betroffene durchleben dann beispielsweise immer wieder einmal Szenen aus ihrer Kindheit, die andere Menschen längst vergessen hätten.
Ähnlich belastend beschrieb übrigens Jill Price, die erste Betroffene, bei der HSAM diagnostiziert wurde, ihren Alltag: "Die meisten bezeichnen es als eine Gabe. Aber ich nenne es eine Last. Jeden Tag geht mir mein gesamtes Leben durch den Kopf – und das macht mich verrückt."
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