Wenn ein Elternteil oder Verwandter krank wird, können Kinder eine fürsorgliche Rolle übernehmen. Die ersten Zahlen der Schweiz zeigen, dass fast 8% der Kinder im Alter zwischen 10 und 15 Jahren junge Pflegende sind - weit mehr als bisher angenommen.

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Wenn ein Elternteil, Geschwister oder Grosselternteil an Krebs erkrankt oder an Depressionen leidet, kann sich auch das Leben angehöriger Kinder stark verändern. Vor allem, wenn diese Kinder Pflege-, Haushalts- oder Kinderbetreuungsaufgaben übernehmen müssen, in manchen Fällen auch verantwortungsreiche Aufgaben, wie die Verabreichung von Medikamenten.

Junge Pflegende schweigen oft über ihre Situation, sagt Agnes Leu, Leiterin des Forschungsprogramms Young Carers an der Fachhochschule Kalaidos in Zürich.

"Für mich ist es wie ein Tabu: Entweder verschweigen junge Leute das Thema, weil sie selber nicht wollen, dass alle davon wissen, oder die Person, die sie pflegen, will nicht, dass sie darüber reden", sagt Leu gegenüber swissinfo.ch.

Zum ersten Mal konnten Leu und ihr Team das Ausmass des Problems in der Schweiz beleuchten. Ihre landesweite Umfrage unter Kindern im Alter von 10 bis 15 Jahren an 230 Schweizer Schulen ergab, dass fast 8% der 4800 befragten Kinder Betreuungsaufgaben übernehmen.

Das Ergebnis überraschte sogar Leu. Basierend auf Forschungen in anderen Ländern ging Leu davon aus, dass die Zahl der betroffenen Kinder auch in der Schweiz 4-5% betragen würde.

In Grossbritannien, dem Land, das seit fast 30 Jahren führend in der Forschung über junge Pflegende ist, liegt der Anteil der unter 18-Jährigen bei 2-4%.

Überraschend war auch, dass es bei den 8% Betroffenen in der Schweiz keinen grossen geschlechtsspezifischen Unterschied gibt: Bei Mädchen waren es rund 9%, bei Jungen 6,6%. Ältere Pflegende sind meist weiblich, sagt Leu.

"Die Forschungsresultate zeigen, dass es bei jungen Menschen egal ist, ob Mädchen oder Jungen betroffen sind. Auffallend ist, dass bei Bedarf meistens das älteste Kind Pflegeaufgaben übernimmt", sagt die Professorin.

Reaktionen

Junge Pflegende stehen vor vielen Hindernissen, wie die Interviews im Rahmen der Studie zeigen. Giulia Brändli war 16 Jahre alt, als bei ihrer Mutter Krebs diagnostiziert wurde. Sie sagt, dass einige ihrer Freunde nicht verstanden hätten, warum sie mehr Zeit mit ihren Eltern verbringen musste.

Und wenn sie selber krank war, ging sie oft trotzdem ihre Mutter besuchen, anstatt sich selbst ins Bett zu legen. Brändli sagt auch, dass sie manchmal mehr Verständnis von Erwachsenen erhofft hätte.

Gaétan Girardins Mutter litt an einer Geisteskrankheit. Für ihn wären Selbsthilfegruppen hilfreich gewesen.

Oft übernehmen Kinder eine Betreuungsrolle, weil andere Familienmitglieder oder Freunde fehlen oder weil eine professionelle Betreuung zu teuer ist. Aber sie wollten die Fürsorge auch deshalb übernehmen, weil diese jemandem zugutekomme, den sie liebten, sagt Leu.

Die meisten betrachteten dies nicht als Belastung: Etwa ein Drittel der befragten jungen Pflegenden gab an, die Belastung sei gering oder moderat, 22% gaben an, sie sei hoch und 16% sehr hoch.

Schwieriger sei es, die gleichen Resultate wie jene ihrer Kollegen zu erzielen, zum Beispiel in der Schule. Das sei für viele junge Pflegende sehr wichtig. Die Schule könne eine willkommene Abwechslung sein. Aber Zeit für Schularbeiten zu finden, benötige oft zusätzliche Organisation.

Die Profis

Leu und ihr Team führten auch eine zweite landesweite Umfrage unter etwas mehr als 3500 Fachleuten aus den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales durch, um herauszufinden, welches Bewusstsein diese für junge Pflegende hätten.

Dabei stellte sich heraus, dass viele nicht ausreichend mit dem Thema vertraut waren. Doch nachdem ihnen das Konzept im Detail erklärt worden war, gaben 40% der Befragten an, dass sie in ihrem beruflichen Alltag mit jungen Pflegenden zu tun gehabt hätten.

In vielen Fällen werden Lehrkräfte erst auf überlastete Kinder aufmerksam, wenn sie in der Schule Probleme bekämen, wie zum Beispiel Müdigkeit. Fachleute sagten, sie bräuchten weitere Informationen und Ausbildung, um junge Pflegende zu erkennen und diesen früher helfen zu können.

Für Leu sind die Ergebnisse beider Umfragen ein wichtiger erster Schritt, um auf die Situation in der Schweiz aufmerksam zu machen. Das Forschungsprojekt wird fortgesetzt. Dabei geht es zunächst um die Frage, welche Unterstützung pflegende Kinder benötigen. Die Ergebnisse sollen im nächsten Jahr veröffentlicht werden.  © swissinfo.ch

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