Hamburg (dpa/tmn) - Das Kind holt sich schon, was es braucht! Mit diesem Satz versuchen sich Eltern zu beruhigen, wenn ihr Nachwuchs Gemüse schmäht und stattdessen lieber täglich Buttertoast und Wurst in sich hineinschiebt. Doch auch wenn die Väter und Mütter beim Thema Ernährungserziehung nicht verkrampfen sollten - die Zügel ganz locker lassen sollten sie auch nicht.
"Die Eltern haben Vorbildfunktion", sagt der Hamburger Ernährungsmediziner Matthias Riedl. Im Interview erklärt er, warum Väter und Mütter ihr Kind beim Essen "fehlprägen" können und weshalb Heranwachsende aus seiner Sicht noch mehr vor Werbung für ungesunde Lebensmittel geschützt werden sollten.
Frage: Herr Riedl, es heisst oft: Kinder können alles essen. Stimmt das?
Matthias Riedl: Nein, weil wir in einer ernährungsfeindlichen Umgebung leben. Kinder sollten nicht alles essen und vor allem nicht früh alles essen.
Frage: Warum?
Riedl: Im Mutterbauch und in den ersten beiden Lebensjahren wird das Geschmacksempfinden des Kindes fürs Leben wesentlich geprägt. Doch wir leisten uns die Ignoranz, zu sagen, dass wir erstens keine Tiere sind, was nicht stimmt, und deshalb zweitens keine artgerechte Ernährung brauchen. Was auch nicht stimmt. Unsere artgerechte Ernährung ist pflanzenbasiert, was weder vegan noch streng vegetarisch bedeutet. Aber 500 Gramm Gemüse am Tag sollten später auf den Teller von Erwachsenen landen - und hier sind die ersten 1000 Tage des Heranwachsenden wichtig für die Prägung.
Frage: Was sollten Eltern also tun?
Riedl: Wer früh mit Gemüse experimentiert, führt die Kinder an echten Geschmack heran. Kinder müssen zum Beispiel eine Toleranz gegenüber Bitterstoffen entwickeln, die in Pflanzen vorkommen. Lernen sie das nicht, werden sie Gemüse auch später eher ablehnen.
Frage: Gerade in der Vorschulzeit hört man immer wieder den Satz, dass der kindliche Körper sich schon das aus dem Essen holt, was er braucht. Wie sehen Sie das?
Riedl: Sie sprechen die Idee des intuitiven Essens an. Das funktioniert in einer natürlichen Umgebung, aber nicht in unserem ernährungsfeindlichen Umfeld. So ein Angang kann dazu führen, dass ich Hilferufe von Eltern bekommen, die sagen: Unsere 11-jährige Tochter isst nur Toast, Nudeln und Fischstäbchen. Hier haben Eltern die gesunde Ernährungsprägung verpasst und ihr Kind fehlgeprägt.
Frage: Ab wann machen sich solche schlechte Ernährungsgewohnheiten körperlich bemerkbar?
Riedl: Eine Fehlernährung wirkt sich schleichend auf die Gesundheit aus. Zu Beginn der Jugendzeit, mit zehn bis zwölf Jahren, sinkt der Energiebedarf des Kindes, zu viel aufgenommene Kohlenhydrate setzen an. Das Problem sind nicht nur zu viel Gewicht und möglicherweise steigender Bluthochdruck. Die Ernährungsweise ist quasi fürs Leben gesetzt und wirkt sich etwa auch auf die geistige Leistung aus.
Frage: Wie gefährlich ist der tägliche Konsum von Pizza und Burger für Kinder?
Riedl: Das verdirbt ganz sicher die Ernährungsprägung und hat ohne Zweifel ungünstige Auswirkungen auf die Entwicklung des Stoffwechsels. Man erhöht damit das Diabetes-Risiko. Und es ist auf Dauer auch nicht gut für die Blutgefässe.
Frage: Welche Dosis Junkfood und Fast Food ist aus ihrer Sicht okay?
Riedl: Ein bis zweimal im Monat ist für mich absolut in Ordnung. Alles darüber gerät zur Gewohnheit.
Frage: Und was macht man, wenn der Heranwachsende jeden Tag Fertig-Currywurst essen will?
Riedl: Dann wirkt die Werbung bei ihm sehr gut, und er hat vermutlich eine verkorkste Prägung hinter sich. Die Eltern haben hier weiter Vorbildfunktion. Ich würde sie einfach nicht mehr kaufen und dem Kind verbieten. Fertig-Currywurst ist wirklich eine gesundheitliche Sünde, die gehört auf die rote Liste.
Frage: Ein Problem ist die Werbung für ungesunde Lebensmittel. Ist sie an Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre gerichtet, sollen die Regeln ab 1. Juni verschärft werden. Es soll etwa nicht mehr heissen dürfen, dass ein Produkt wertvolle Vitamine enthalte, wenn es sonst ungesund ist. Bringt das was?
Riedl: Das sind längst überfällige Korrekturen, aber wir brauchen mehr. Sobald die Kinder Werbung zu Gesicht bekommen, merken wir, dass sie sich adaptieren und die gezeigten Produkte essen wollen. Werbung ist so wirkmächtig auf unsere Kinder, das glaubt man nicht.
ZUR PERSON: Matthias Riedl ist Facharzt für Innere Medizin und Diabetologe. Er ist Pressesprecher des Bundesverbandes Deutscher Ernährungsmediziner (BDEM).
INFO-KASTEN Die neuen Junkfood-Werberegeln - und die Kritik daran
Für Lebensmittelwerbung, die Kinder und Jugendliche bis 14 Jahre adressiert, hat sich die deutsche Werbebranche strengere Regeln auferlegt. Künftig ist es unter anderem nicht mehr erlaubt, bei ungesunden Produkten, von denen man für eine ausgewogene Ernährung nicht zu viel konsumieren sollte, vermeintlich positive Eigenschaften hervorzuheben, wie der Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft erklärt. Zum Beispiel Angaben wie "unter Zusatz wertvoller Vitamine und Mineralstoffe". Die Regeln treten zum 1. Juni in Kraft.
Doch diese freiwillige Selbstverpflichtung der Werbebranche geht vielen nicht weit genug und ruft Kritik hervor. Die Organisation Foodwatch etwa moniert, dass Hersteller Zuckerbomben und fettige Snacks nach wie vor direkt an Kinder bewerben dürften, entgegen der Forderungen von Gesundheitsexperten und Verbraucherschützern. Selbstregulierungen seien ungeeignet, um Kinder vor übergriffiger Junkfood-Werbung zu schützen.
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