Wenn Menschen sich stark mit einzelnen, vermeintlich unansehnlichen Körperteilen beschäftigen, sprechen Psychologinnen und Psychologen von einer körperdysmorphen Störung. Manche der Betroffenen ziehen sich komplett zurück, aus Scham, von anderen als hässlich angesehen zu werden.
Eine vermeintlich zu grosse Nase, Sommersprossen auf den Armen, ein Muttermal am Hals: Für Menschen mit einer körperdysmorphen Störung sind das so grosse Makel, dass sie sich mitunter schämen, aus dem Haus zu gehen. Vor dem Spiegel zoomen sie mit ihrem Blick an die Körperstellen heran, bis diese in der eigenen Betrachtung grösser und grösser und irgendwann unerträglich werden.
Zwar sind viele Menschen mit ihrem Aussehen unzufrieden, diese Art der Beschäftigung mit dem Äusseren ist aber extrem. Dass es sich dabei um eine psychische Erkrankung handelt, die einen Namen (körperdysmorphe Störung, veraltet: Dysmorphophobie) und einen Eintrag im ICD, dem Internationalen Klassifikationssystem für Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme, hat, wissen viele Betroffene jedoch nicht. In der Regel erkennen sie nicht einmal selbst, dass ihr Blick auf sich selbst nicht der Realität entspricht. Zuletzt hatte auch Popstar Robbie Williams über seinen Kampf gegen Dysmorphophobie und Selbsthass gesprochen.
Bei vielen Betroffenen ist gar kein "Makel" zu erkennen
"Wer eine körperdysmorphe Störung hat, kann die eigenen Symptome in der Regel nicht selbst feststellen. Psychologen bezeichnen diese Erkrankung als ich-synton. Das bedeutet, dass die Betroffenen nicht in der Lage sind, aus einer gewissen Distanz zu bemerken, dass die Überzeugungen hinsichtlich eines vermeintlichen körperlichen Makels überwertig sind", so der Leiter des Tagesklinik für Somatoforme Störungen am Universitätsklinikum Dresden, Christoph Schilling, im Gespräch mit unserer Redaktion. Meist falle zunächst Angehörigen oder Freunden auf, dass es hier ein psychisches Problem gibt.
Denn dass kleine körperliche Auffälligkeiten so sehr stören können, dass soziale Kontakte gemieden werden, deutet auf tiefer liegende psychische Probleme hin, wie etwa ein geringes Selbstwertgefühl. Viele der Betroffenen haben sogar objektiv gesehen gar nichts, was als "Auffälligkeit" gelten könnte. Bei Frauen sind es dann oft angeblich zu kleine Brüste oder zu dicke Beine, die stören; bei Männern richtet sich der Blick häufig auf die Genitalien oder darauf, ob der Oberkörper einem Männlichkeitsideal entspricht.
Wie viele Menschen genau unter einer körperdysmorphen Störung (KDS) leiden, ist nicht bekannt. Es sind wohl zwischen 0,7 und 3 Prozent. Mit Magersucht und Bulimie bestehen insofern Gemeinsamkeiten, als Betroffene sich selbst völlig anders sehen, als sie von anderen gesehen werden. Fachleute nennen das eine Körperschemastörung, sie ist aber nur ein Teilaspekt einer körperdysmorphen Störung.
"Wer täglich mehr als eine Stunde über sein Aussehen nachdenkt, hat möglicherweise eine körperdysmorphe Störung."
Um herauszufinden, ob man selbst betroffen sein könnte oder Menschen im eigenen Umfeld, ist wichtig zu wissen, wie viel Zeit am Tag mit dem Nachdenken über das eigene Aussehen vergeht. "Damit ist nicht gemeint: Wie lange brauche ich, um mich morgens zu schminken und mir die Haare zu machen? Oder: Wie lange stehe ich vor dem Schrank und überlege, was ich heute anziehe?", sagte die Leiterin der Spezialambulanz für körperdysmorphe Störungen der TU Braunschweig, Anja Grocholewski, zu unserer Redaktion.
Gemeint sind vielmehr das reine Beschäftigen mit dem Aussehen und die Versuche, den vermeintlichen Makel zu verstecken oder zu beseitigen. "Wer täglich mehr als eine Stunde über sein Aussehen nachdenkt, hat möglicherweise eine körperdysmorphe Störung", sagt Grocholewski.
Das Gesamtbild sehen und sich von den Details lösen
Behandelt wird eine körperdysmorphe Störung meist durch eine kognitive Verhaltenstherapie, mitunter unterstützt durch Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, die auch bei Depressionen oder Zwangsstörungen eingesetzt werden. "Bei der kognitiven Verhaltenstherapie helfen wir Patienten dabei, das Gesamtbild zu sehen und sich von Details zu lösen", so die leitende Psychologin der KDS-Ambulanz an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster, Johanna Schulte, gegenüber unserer Redaktion. Hinzu kommt, dass Rituale abgeschafft werden, bei denen es ums Nachdenken über vermeintliche Makel oder um die Versuche, sie zu kaschieren geht.
In einer kognitiven Verhaltenstherapie wird an Fragen gearbeitet wie: 'Wie wichtig ist das Aussehen für mein Selbstbild, Selbstbewusstsein und meine Wirkung auf andere Menschen?' "Wir überprüfen die zugrundeliegenden Annahmen, die die Person über sich selbst hat, zum Beispiel: 'Ich werde nur gemocht, wenn ich gut aussehe'", so Johanna Schulte.
Um Ursachenforschung geht es bei der Therapie eher weniger. Meist wird eine körperdysmorphe Störung aber durch Erlebnisse in der Kindheit oder Jugend ausgelöst. "Das kann zum Beispiel ein Elternhaus sein, in dem Aussehen eine übertrieben wichtige Rolle gespielt hat, oder es können Hänseleien sein", sagt Anja Grocholewski.
Zudem sind perfektionistische Menschen etwas anfälliger für KDS oder Menschen, die Kritik und Bewertung von aussen grundsätzlich nah an sich heranlassen. Ob die Zahl der Betroffenen durch soziale Medien, in denen Äusseres und Bewertungen eine grosse Rolle spielen, gestiegen ist, lässt sich nach Auskunft der von uns befragten Experten nicht seriös sagen. Es gibt dazu noch zu wenig Forschung. Ähnliches gilt auch für die Zeit der Corona-Pandemie, seit der Menschen vermehrt im Homeoffice arbeiten und sich häufiger selbst in Videokonferenzen sehen.
Selbsttest kann erste grobe Einschätzung geben
Die Spezialambulanz der WWU Münster hat auf ihrer Website einen Selbsttest für eine erste grobe Einschätzung. "Personen, die denken, dass sie an einer körperdysmorphen Störung leiden, sollten aber eine Sprechstunde bei einem psychologischen Psychotherapeuten aufsuchen. Die Kosten dafür übernehmen die Krankenkassen", so Johanna Schulte.
"Den vermeintlichen Makel durch eine Schönheitsoperation zu beseitigen, hilft meistens nicht."
Die kognitive Verhaltenstherapie, die darauf abzielt, Gedanken und Verhaltensweisen zu ändern, hilft nach Angaben der Experten sehr gut. Die einzelnen Elemente: weg von den Details und stattdessen den Körper als Ganzes betrachten, Rituale abschaffen, sich einer sozialen Situation aussetzen, es aushalten, sich vor dem Spiegel anzusehen, und verinnerlichen, dass Aussehen nicht alles ist, wirken demnach gut gegen diese psychische Erkrankung.
Die Therapie ist anstrengend, am Ende verringert sich jedoch das Leiden vieler Betroffener mehr als zum Beispiel durch Schönheits-OPs, zu denen Anja Grocholewski sagt: "Den vermeintlichen Makel durch eine Schönheitsoperation zu beseitigen, hilft meistens nicht." Denn danach konzentrierten sich Betroffene eben auf andere, aus ihrer Sicht unansehnliche Körperteile. "In der kognitiven Verhaltenstherapie geht es darum, die eigenen Gedanken zu ändern - und nicht, den Makel zu beseitigen."
Hinweis: Dieser zuletzt im August 2021 erschienene Artikel wurde aus aktuellem Anlass aktualisiert und neu veröffentlicht.
Verwendete Quellen:
- Telefoninterview mit Anja Grocholewski
- Antworten per Mail von Johanna Schulte und Christoph Schilling
- Website KDS-net.com mit weiterführenden Informationen auch für Behandelnde und Angehörige
- Ärzte-Zeitung: Was bin ich hässlich – Wenn der kritische Blick auf den Körper zur Dysmorphophobie wird
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