- Wir können uns immer schlechter konzentrieren - aber das ist nicht ausschliesslich unsere Schuld, sagt der Autor Johann Hari.
- Neben unseren begrenzten kognitiven Fähigkeiten macht er auch gesellschaftliche Faktoren wie unsere moderne Arbeitswelt dafür verantwortlich.
- Doch er stellt auch einige Lösungsansätze vor und erklärt, warum Ernährung und Schlaf Einfluss auf unsere Konzentrationsfähigkeit haben.
Herr Hari, in Ihrem Buch befassen Sie sich mit dem Thema Ablenkung und damit, wie man seine Konzentration verbessern kann. Wie sind Sie dafür vorgegangen?
Johann Hari: Unsere Fähigkeit, aufmerksam zu sein, nimmt ab. Der durchschnittliche Student konzentriert sich nur noch 65 Sekunden lang auf eine Aufgabe, der durchschnittliche Angestellte schafft nur noch drei Minuten. Und jedes Jahr wird es schlimmer. Ich habe mich auf eine lange Reise durch die ganze Welt zu begeben, um Antworten zu finden. Ich habe über 200 führende Expertinnen und Experten für Aufmerksamkeit und Fokussierung befragt, um herauszufinden: Warum ist das so und was können wir dagegen tun?
Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Wir müssen die Art und Weise, wie wir über dieses Problem denken, radikal ändern. Es ist kein persönliches Versagen. Wenn ich Schwierigkeiten hatte, mich zu konzentrieren, habe ich mir gesagt: Du bist schwach. Du bist faul. Du bist undiszipliniert. Doch tatsächlich beeinflussen auch externe Faktoren unsere Konzentration.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ich habe Professor Earl Miller interviewt, einen Neurowissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology (M.I.T) und er hat mir einen entscheidenden Fakt über das menschliche Gehirn erklärt: Das Gehirn kann nur einen oder zwei Gedanken gleichzeitig produzieren. Das war's. Wir haben eine sehr begrenzte kognitive Kapazität. Aber wir glauben, dass wir mehrere Dinge gleichzeitig tun können. Der durchschnittliche Teenager glaubt, dass er sechs oder sieben Medien gleichzeitig verfolgen kann.
Was aber nicht der Fall ist?
Als Neurowissenschaftler das untersuchten, fanden sie heraus, dass wir in Wirklichkeit "jonglieren": Wir schalten hin und her. Wir bemerken den Wechsel nicht, aber unser Gehirn konfiguriert sich von Moment zu Moment, von Aufgabe zu Aufgabe neu – und das hat seinen Preis.
Und der wäre?
Dieses ständige Umschalten verschlechtert die Fähigkeit, sich zu konzentrieren. Stellen Sie sich vor, Sie machen gerade Ihre Steuererklärung, zwischendurch erhalten Sie eine SMS und kehren dann zu Ihrer Steuererklärung zurück. Es ist nur ein kurzer Moment, fünf Sekunden, aber das Gehirn muss sich neu konfigurieren, wenn es von einer Aufgabe zur nächsten geht. Man muss sich daran erinnern, was man vorher getan hat, und man muss sich daran erinnern, was man darüber gedacht hat, und das braucht ein bisschen Zeit. Wenn dies geschieht, lässt die Leistung nach.
Also kostet uns ein Blick aufs Smartphone mehr Zeit, als wir vielleicht glauben?
Genau. Wenn Ihre Bildschirmzeit zeigt, dass Sie Ihr Telefon vier Stunden am Tag benutzen, dann verlieren Sie in Wirklichkeit noch mehr Zeit, weil Sie sich nicht konzentrieren können.
Wie viel Zeit geht durch eine Ablenkung, etwa aufs Smartphone zu schauen, verloren?
Wenn Sie unterbrochen werden, brauchen Sie im Durchschnitt 23 Minuten, um wieder so konzentriert zu sein wie vor der Unterbrechung - aber die meisten von uns haben nie 23 Minuten Zeit, sodass wir ständig mit verminderter Kapazität arbeiten.
Also sollten wir das Smartphone öfter weglegen?
Wir müssen Lösungen auf zwei Ebenen anstreben. Die erste ist persönlich, die zweite ist kollektiv. Meine persönliche Ablenkung durch das Smartphone minimiere ich, indem ich mein Telefon mindestens vier Stunden am Tag in einen zeitgesteuerten Tresor einschliesse, um mir Raum zum Nachdenken und zur Konzentration zu geben. Und ich nehme mir die Hälfte des Jahres in Abschnitten eine Auszeit von den sozialen Medien.
Und was hat es mit den von Ihnen erwähnten kollektiven Lösungen auf sich?
Viele Leute werden das hören und sagen: "Das kann ich nicht machen. Mein Chef könnte mir jeden Moment eine Nachricht schicken und wenn ich die Nachricht verpasse, bekomme ich Ärger." In Frankreich hat man ein gesetzliches "Recht auf Abschalten". Jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf schriftlich festgelegte Arbeitszeiten und das Recht, sein Telefon oder seine E-Mails ausserhalb der Arbeitszeit nicht abzurufen. Das ist nur ein Beispiel für kollektive Veränderungen, die wir als Gesellschaft vornehmen können und die unsere Konzentration radikal verbessern würden.
Das Smartphone für eine bestimmte Zeit nicht zu nutzen, ist eine Möglichkeit. Was können wir noch tun, um konzentriert am Stück zu arbeiten?
Wir schlafen viel weniger als früher - etwa 20 Prozent weniger als noch vor einem Jahrhundert. Es gibt wissenschaftliche Belege dafür, dass die Fähigkeit, sich zu konzentrieren und aufmerksam zu sein, erheblich beeinträchtigt ist, wenn man weniger schläft. Wenn man also gut geschlafen hat, kann man sich viel länger konzentrieren.
Kann man Konzentration auch trainieren?
Ja, bis zu einem gewissen Grad. Aufmerksamkeit ist wie ein Muskel - je mehr man ihn benutzt, desto stärker wird er. Sie können Ihren Geist auch in einen Flow-Zustand versetzen.
Was ist das?
Ein Flow-Zustand ist, wenn man etwas wirklich Interessantes macht und die Zeit wie im Flug vergeht und am Ende denkt man: "Wow, das ging wirklich schnell." Unterschiedliche Menschen geraten durch unterschiedliche Dinge in einen Flow - das kann das Backen von Bagels sein oder Klettern. Flow ist sowohl die tiefste Form der Aufmerksamkeit als auch die einfachste.
Lesen Sie auch: "Aufmerksamkeitszerstäubung": Was macht das Internet mit unserem Denken?
Und wie schafft man es, in diesen Flow-Zustand zu kommen?
Das habe ich mir vom Schöpfer der Theorie, Professor Mihaly Czisenmihaly, erklären lassen. Es gibt drei Dinge, die Sie tun können, um in diesen Zustand zu gelangen. Das erste: sich ein klar definiertes Ziel setzen. Flow kann nur entstehen, wenn Sie "mono-tasken" - wenn Sie sich entscheiden, alles andere sein zu lassen und nur eine Sache zu tun. Flow erfordert die gesamte Gehirnleistung, die für eine einzige Aufgabe eingesetzt wird. Zweitens müssen Sie etwas tun, das für Sie von Bedeutung ist. Und drittens ist es hilfreich, wenn Sie etwas tun, das an der Grenze Ihrer Fähigkeiten liegt, diese aber nicht überschreitet.
Wie meinen Sie das?
Wenn das von Ihnen gewählte Ziel zu leicht ist, schalten Sie auf Autopilot. Wenn es zu schwer ist, fühlen Sie sich ängstlich und Sie kommen nicht in den Flow.
In Ihrem Buch machen Sie auch Ernährung für Konzentrationsprobleme verantwortlich. Was hat es damit auf sich?
Dale Pinnock, ein Ernährungswissenschaftler aus Grossbritannien, hat es mir so erklärt: "Wenn Sie Shampoo in einen Automotor geben, wundern Sie sich nicht, wenn das Ding den Geist aufgibt.". Und doch geben wir jeden Tag Stoffe in unseren Körper, die so weit von dem entfernt sind, was als menschlicher Treibstoff gedacht war. Aufmerksamkeit ist auch ein physischer Prozess, bei dem der Körper bestimmte Leistungen erbringen muss. Wenn Sie also Ihrem Körper die nötigen Nährstoffe vorenthalten oder ihn mit Schadstoffen vollpumpen, wird auch Ihre Fähigkeit, aufmerksam zu sein, gestört.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Viele von uns beginnen den Tag vielleicht mit einer Scheibe Toast. Da dieses Lebensmittel kaum Ballaststoffe enthält, wird die Glukose, die Energie liefert, sehr schnell freigesetzt. Der Blutzuckerspiegel steigt schnell an, was sehr gut ist - etwa zwanzig Minuten lang. Dann bricht er zusammen und wenn das passiert, sitzt man am Schreibtisch und kann kaum noch denken. "Wenn Sie bei jeder Mahlzeit diese billigen Kohlenhydrate zu sich nehmen, werden Sie diese Achterbahnfahrt immer wieder durchlaufen", sagt Pinnock. Die Wirkung wird noch verstärkt, wenn man diese Art von Lebensmitteln zusammen mit Koffein zu sich nimmt.
Für Ihr Buch haben Sie mit verschiedenen Experten gesprochen. Was war die wichtigste Erkenntnis, die Sie aus Ihren Interviews gewonnen haben?
Dass es nicht Ihre Schuld ist, dass Sie sich nicht konzentrieren können. Es ist nicht die Schuld Ihres Kindes, dass es sich nicht konzentrieren kann. Ihre Fähigkeit, sich zu konzentrieren, ist nicht verloren gegangen - sie wird Ihnen gestohlen. Wir betrachten mangelnde Aufmerksamkeit meist als individuelles Versagen. Das ist sie aber nicht. Sie ist ein Produkt grosser Umweltfaktoren. Professor Joel Nigg, ein Experte für Aufmerksamkeitsprobleme bei Kindern, spricht davon, dass wir eine "pathogene Aufmerksamkeitskultur" entwickeln - ein Umfeld, in dem es für uns alle schwieriger ist, uns dauerhaft und intensiv zu konzentrieren. Es gibt Lösungen, natürlich durch Änderung unseres individuellen Verhaltens. Aber auch dadurch, dass wir es als Gesellschaft mit den grösseren Kräften aufnehmen, etwa unserer Arbeitskultur. Dies erfordert einen Wandel in unserem Bewusstsein. Wir müssen aufhören, uns selbst die Schuld zu geben.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.