Über welche Themen möchten Sie, liebe Leser, bei uns gerne mehr erfahren? Diese Frage stellen wir jeden Monat. Dieses Mal haben sich 41 Prozent, also 12.678 unser Leser für das Thema "Ärztepfusch" und gegen die Konkurrenzthemen "Transsexualität" und "Anti-Aging" entschieden. Zwar ist es nach medizinischen Fehlern einfach, alle Schuld den Ärzten zu geben. Doch hinter dem "Pfusch" steckt oft mehr als menschliches Versagen.
Die Frage, wie häufig in Deutschland bei medizinischen Behandlungen etwas schief geht, lässt sich nicht so einfach beantworten. Nicht alle Betroffenen wollen sich zu Wort melden. Manche können es auch gar nicht mehr, weil sie an einem Behandlungsfehler verstorben sind. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) hat in einer wissenschaftlichen Analyse errechnet, dass bei 0,1% aller Krankenhauspatienten mit einem Behandlungsfehler mit Todesfolge zu rechnen ist. Demnach sei in Deutschland jedes Jahr von etwa 17.500 Todesfällen nach Behandlungen im Krankenhaus auszugehen.
Schwache Kette, schwache Glieder
Wer ist schuld, wenn es bei einer medizinischen Behandlung zu einem vermeidbaren Todesfall oder einer gesundheitlichen Beeinträchtigung kommt? Der gerne gebrauchte Begriff "Ärztepfusch" kommt dem Phänomen nicht wirklich auf die Spur. Denn häufig geht es nicht um eine einzige Fehlleistung beziehungsweise darum, dass der Arzt oder die Ärztin leider einen schlechten Tag hatte oder schlicht inkompetent war. Vielmehr steckt oft ein System hinter dem menschlichen Versagen. Laut APS zeigen Fehleranalysen häufig "Defizite in der Struktur der Einrichtung, in der Organisation und dem Prozessablauf verbunden mit Zeitdruck und dadurch ausgelöster Unaufmerksamkeit".
Auch Mängel bei den hygienischen Verhältnissen gelten als eine der Hauptursachen für misslungene Behandlungen. So wurden 2010 im deutschen Gesundheitssystem mehr als 400 Todesfälle mit dem WHO-Schlüssel "Y62" hinterlegt. Dieser steht für Infektionen über eingeschleppte Erreger, die sich mit besserer Hygiene wahrscheinlich hätten verhindern lassen. Patientenverbände gehen sogar von einem Vielfachen der genannten Opferzahl aus und fordern einheitliche gesetzliche Hygieneregeln, die schnell umgesetzt und kontrolliert werden könnten.
Patienten fordern ihr Recht
Mit derart "kranken" Strukturen wollen sich immer mehr Betroffene nicht abfinden. "Sie haben ein Recht auf Entschädigung! Nehmen Sie es sich!", macht die Patientenanwältin Dr. Michaela Bürgle betroffenen Patienten Mut. Die Liste der Schadenersatzfälle, die die Frankfurter Anwältin bearbeitet und auf ihrer Website gelistet hat, ist lang und umfasst so ziemlich alle Bereiche der Medizin: Die Palette reicht von der Querschnittlähmung nach einer Injektionstherapie, über die überflüssige Anlage eines künstlichen Darmausgangs oder die tödliche Kontamination eines Kindes mit E-coli durch ein Medikament, bis hin zur verspäteten Behandlung eines Schlaganfalls, misslungenen Beauty-Eingriffen und anderen gravierenden Behandlungsfehlern.
Dr. Bürgle und ihre auf Patientenrecht spezialisierten Kollegen haben gut zu tun. An die 10.000 Fälle kommen laut Arbeitsgemeinschaft Medizinrecht im Deutschen Anwaltverein pro Jahr neu vor deutsche Gerichte. Am häufigsten sind Anklagen im Bereich der Chirurgie beziehungsweise der orthopädischen Chirurgie vertreten. Am zweithäufigsten gehen Behandlungen in der Gynäkologie und Anästhesie schief.
Dass heute mehr geklagt wird, hat unter anderem mit einem Stimmungswandel in der Gesellschaft zu tun: Erlittene Schmerzen und Dauerfolgen nach misslungenen Behandlungen werden zunehmend nicht mehr als Einzelschicksal wahrgenommen, mit dem man sich einfach abfinden muss. Dazu hat auch das Internet viel beigetragen. Es erleichtert Patienten das Hinterfragen einer Diagnose und den Austausch mit anderen Betroffenen.
Der lange Weg zum Recht
Trotz dieses Stimmungswandels ist der meist lange Weg zum Recht für betroffene Patienten nicht leichter geworden. Wer klagt, braucht einen langen Atem für den oft mehrjährigen Gerichtsstreit. Ohne Unterstützung durch einen gewieften Anwalt für Medizinrecht stehen Betroffene ohnehin meist auf verlorenem Posten. Patienten- und Verbraucherschutzverbände zweifeln, ob sich daran durch das neue Patientenrechtegesetz, das nächstes Jahr in Kraft tritt, etwas ändern wird. Die fehlende Beweislastumkehr im Gesetzesentwurf wird nicht nur von Politikern der Opposition kritisch gesehen.
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