Über Depressionen gibt es viele Missverständnisse. Leider auch unter den Menschen, die von ihnen betroffen sind. Im Interview spricht Ulrich Hegerl von der Deutschen Depressionshilfe darüber, warum ein Urlaub Depressionen triggern kann, welches Problem er beim Thema Burnout sieht und welches Gespräch er in seinem Berufsleben am häufigsten führen musste.

Ein Interview

Herr Hegerl, wie kann man jemandem, der es selbst nicht erlebt hat, erklären, was eine Depression ist oder wie sie sich anfühlt?

Ulrich Hegerl: Was Depression bedeutet, weiss eigentlich nur der, der es erlebt hat. Betroffene sagen oft: Es fühlt sich anders an als damals, als ich durch die Prüfung gefallen oder die Beziehung in die Brüche gegangen ist. In solchen Momenten ist es gesund, mit Traurigkeit zu reagieren. Wer das nicht tut, hat eher ein Problem.

Wie meinen Sie das?

Bei Depression geht es um das Gefühl der Gefühllosigkeit. Das ist der Fachausdruck dafür. Damit ist gemeint, dass Menschen in der Depression keine Gefühle wahrnehmen können. Auch keine Trauer. Sie fühlen sich wie abgestorben. Tot. Das ist ein spezieller Zustand, in dem die Menschen sagen: Ich kann eigentlich weder negative noch positive Gefühle wahrnehmen.

Diese Anzeichen können laut Ulrich Hegerl für eine Depression sprechen

  • hartnäckige Schlafstörungen trotz permanenter Erschöpfung
  • innere Daueranspannung, als würde man ständig vor einer Prüfung stehen
  • Appetitstörungen, oft mit Gewichtsverlust
  • dass nichts mehr Freude macht
  • das Gefühl, in einer Sackgasse ohne Ausweg zu stecken
  • Suizidgedanken
  • Schuldgefühle
  • Konzentrationsstörungen; manchmal glauben die Menschen, sie hätten Alzheimer
  • weil Gedanken permanent um das Negative kreisen, lebt man wie in einer Blase und fühlt sich nicht mit seiner Umwelt verbunden
  • auch Wahnvorstellungen wie Hypochondrie können für eine Depression sprechen

Was ist ausserdem typisch für Depressionen?

Schuldgefühle. Zu denken: Ich habe alles falsch gemacht, ich bin eine Belastung für andere. Ausserdem typisch für Depressionen ist, wenn sich die Symptome nach einem Schlafentzug bessern.

Was hat es mit dem Schlafentzug auf sich?

Depression verschlechtert sich bei langen Bettzeiten. In Kliniken wird Schlafentzug als Behandlung bei Depressionen angeboten. Die Erkrankten fühlen sich oft sehr erschöpft und müde. Wenn sie es dann ausprobieren, merken 60 Prozent von ihnen, dass eine oft seit Monaten bestehende Depression abfällt. Bei Depressionen gibt es Tagesschwankungen. Am Morgen und auch im Nachtschlaf sind sie stärker ausgeprägt. Abends hellen sie sich meist auf.

Und es gibt noch eine Reihe anderer Dinge, die bei Depressionen mit hineinspielen. Familiäre Vorbelastung und Genetik spielen eine grosse Rolle. Wenn man die Veranlagung für Depressionen hat, können auch äussere Lebensumstände Auslöser sein. Überforderungen etwa, aber auch eine bestandene Prüfung oder Urlaubsanträge.

Also auch Sachen, die objektiv eher als etwas Positives gewertet werden - wie Urlaub?

Ja, wenn sich der Lebensrhythmus ändert – auch in eine positive Richtung. Wenn man Urlaub hat, bleibt man vielleicht länger liegen, geht früher ins Bett und schläft auch am Tag. Es kann auch sein, dass man, wenn man die Veranlagung hat, plötzlich anfängt, über negative Dinge zu grübeln.

Einfach, weil man jetzt Zeit dafür hat?

Wer eine Depression kriegt, schaut sich in seinem Leben um, nach dem Motto: Was gibt es Negatives? Und da findet jeder von uns irgendwas. Stress in der Arbeit. Rückenschmerzen. Oft sind es Dinge, die einen schon immer gestört haben. Dieses Negative wird dann vergrössert und ins Zentrum gerückt. Das Problem ist: Menschen glauben dann oft, dass das die Ursache ist. Und dann treffen sie falsche Lebensentscheidungen.

Das hört sich nach einem schwerwiegenden Missverständnis an.

Die Depression sucht sich immer ihre Gründe. Man hat das Gefühl, es gibt eine Erklärung für die Stimmung. Wer zum Beispiel arbeitet und in eine Depression rutscht, hat das Gefühl, der Job wächst einem völlig über den Kopf. Und dann gehen Leute früher Rente, weil sie denken, es liegt an der Arbeit. Doch was folgt, ist eine weitere Depression, weil die Arbeit eben nicht schuld war. Vielleicht wäre ihnen aufgefallen, dass sie die Probleme schon hatten, bevor sie gearbeitet haben, wenn sie genauer darüber nachgedacht hätten. Ein Burnout-Berater unterstützt das Ganze dann noch.

Also sehen Sie das Thema Burnout kritisch?

Burnout ist keine Diagnose. Die meisten Menschen, die eine Auszeit im Burnout nehmen, haben eine Depression. Sie erfüllen viele Diagnosekriterien. Praktisch alle, die eine Depression haben, fühlen sich von der Arbeit überfordert. Viele haben dann die falsche Vorstellung, einfach Urlaub zu machen und es geht wieder besser. Aber eine Depression geht mit in den Urlaub.

Es gibt heute eine richtige Burnout-Industrie zwischen Coaching und Burnout-Kliniken, die Privatpatienten anlocken wollen. Das hat einen grossen Vorteil, dass sich Menschen mit Depressionen unter diesem Begriff eher trauen, Hilfe zu holen. Mit etwas Glück kommen sie zu einem guten Psychotherapeuten, der erkennt, dass es sich um eine Depression handelt. Dann haben sie eine gute Chance, dass sie schnell in Behandlung kommen.

Stichwort Behandlung: Welche Ansätze bei Depressionen gibt es – was hilft?

Die beiden Hauptbehandlungssäulen sind Psychotherapie und Antidepressiva. Letzteres ist im direkten Vergleich die wirksamste Behandlung – doch viele Patienten lehnen das zunächst ab.

Warum?

Weil sie denken, die Krankheit sei eine Folge von Überforderung, Partnerschaftskonflikten oder eigener Fehler. Deshalb verstehen sie nicht, warum sie Medikamente einnehmen sollten. Und dann gibt es welche, die denken, Antidepressiva helfen nur der Pharmaindustrie und gekauften Ärzten. Es ist eines der häufigsten Gespräche, das ich in meinem Berufsleben geführt habe, Menschen mit Depressionen davon zu überzeugen, verschriebene Antidepressiva auszuprobieren und selbst zu sehen, wie es einem damit geht.

Auf der einen Seite gibt es heute ein grosses Bewusstsein für psychische Gesundheit, auch unter jungen Menschen. Auf der anderen Seite haben selbst von Depression Betroffene Vorurteile oder denken, es aus eigener Kraft schaffen zu müssen. Woher kommt das?

Ulrich Hegerl © Deutsche Depressionshilfe

Wir streben nach Autonomie und wollen Herr im eigenen Hause sein. Vielleicht sind auch narzisstische Anteile dabei, wenn wir das so psychologisieren wollen. Vor dem Hintergrund versucht man natürlich alles, um nicht auf externe Hilfe oder Medikamente angewiesen zu sein, die die Persönlichkeit verändern. Die Leute glauben, ein Antidepressivum ist eine Art "Happy Pill", nach der man süchtig wird. Das ist eine tief sitzende, aber grundlose Sorge. Wenn man das Medikament abrupt absetzt, gibt es sogenannte Rebound-Phänomene [erhöhte Rückfallraten oder besonders schwere Rückfälle; Anm.d.Red.]. Das gibt es allerdings auch bei Blutdruckmitteln und anderen Medikamenten. In meiner Berufserfahrung war das nie ein grosses Problem.

Hängt die Skepsis auch mit dem Gedanken zusammen, sich nur genug anstrengen und achtsam genug sein zu müssen, damit es einem wieder besser geht?

Ja. Das Konzept der Achtsamkeit ist toll und etwas, was man vielleicht, wenn es einem besser geht, durchaus praktizieren sollte. Denn Menschen mit Depressionen sind ja oft nicht nur sehr liebenswürdige, sondern auch hilfsbereite Personen, die sich für andere aufopfern. Da spielt es eine grosse Rolle, dass man lernt, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und die eigenen Gefühle ernst zu nehmen.

Redaktioneller Hinweis

  • Dieser Artikel ersetzt keine ärztliche Beratung. Die Diagnose, ob eine Depression vorliegt, kann nur ein Arzt oder eine Ärztin stellen.

Über den Gesprächspartner

  • Ulrich Hegerl ist Psychiater und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Er leitet ausserdem das Deutsche Bündnis gegen Depression und die European Alliance Against Depression.

Hilfsangebote

  • Wenn Sie oder eine Ihnen nahestehende Person von Suizid-Gedanken betroffen sind, wenden Sie sich bitte an die Telefon-Seelsorge unter der Telefonnummer 0800/1110-111 (Deutschland), 142 (Österreich), 143 (Schweiz).
  • Anlaufstellen für verschiedene Krisensituationen im Überblick finden Sie hier.

Verwendete Quelle

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