Es gibt viele Gründe, auf Alkohol zu verzichten, doch einfach ist es nicht. Schliesslich lauert die Versuchung überall: zu Hause, bei Freunden und sogar in der Arbeit. Unser Autor hat sich dennoch getraut. Er hat freiwillig einen Monat lang auf Alkohol verzichtet - und Tagebuch geführt.
Tag 1
Das Vorhaben, für einen Monat keinen Alkohol zu trinken, kommt plötzlich und ohne Vorankündigung. Er resultiert weder aus einem Neujahrsvorsatz, noch aus einem halbherzigen Nie-wieder-Alkohol-Gelübde im Katerzustand. Nein, es ist die blosse Neugier, die mich dazu veranlasst. Wird mein Leben dadurch besser? Was wird mein Umfeld dazu sagen? Stehe ich den Monat überhaupt durch? Ich will es herausfinden.
Tag 2
Zwei Tage ohne Alkohol. Eine Herausforderung war das bisher nicht. Noch spüre ich keine Auswirkungen. Weder wirkt mein Körper wie ausgewechselt, noch machen sich Entzugserscheinungen bemerkbar.
Tag 3
Beim Feierabendbier mit den Kollegen werde ich zum ersten Mal aufgrund meiner neuen Einstellung zum Alkohol diskriminiert. "Sockenschläfer" und "Milchbubi" sind noch die harmlosesten Beschimpfungen. Ich schiebe meine Abstinenz auf einen verdorbenen Magen. Die Wahrheit zu sagen, traue ich mich nicht. Ist Selbstverleugnung das erste Stadium des Anti-Alkoholikers?
Tag 4
Es ist Freitagabend. Eigentlich würde ich jetzt mit Freunden auf das bevorstehende Wochenende anstossen. Um mir aber die Diskussion über die Gründe meiner Alkoholfreiheit zu ersparen, schiebe ich mein Fernbleiben wieder auf den verdorbenen Magen und lese zu Hause ein Buch. Mein heutiges Fazit: Wer trocken lebt, lebt einsam.
Tag 5
Samstagabend. Robert lädt zum Geburtstag ein. Nach vier Stunden sind die meisten Gäste betrunken, mit Ausnahme der schwangeren Frauen - und mir. Während schallend zu "Total Eclipse Of The Heart" gesungen wird, unterhalte ich mich mit den Schwangeren über die gescheiterte Familienpolitik der Regierung. Um Mitternacht verlasse ich die Party und versuche mich daran zu erinnern, wie es sich anfühlt, Spass zu haben.
Tag 6
Was für ein Gefühl! Es ist Sonntagmorgen, ich wache um 09:00 Uhr und ohne Kater auf. Mein Körper ist sofort einsatzfähig, die üblichen Reanimierungsmassnahmen sind nicht nötig. Ich fühle mich voller Energie und Tatendrang. Und gehe zum ersten Mal seit zwei Jahren joggen.
Tag 10
Das Feierabendtreffen heute Abend lasse ich entfallen. Ich bin noch immer nicht bereit für mein Coming-out vor den Kollegen.
Tag 11
Meinen Freunden erzähle ich von meinem Entschluss. Sie lieben mich, darum urteilen sie nicht, sondern klopfen mir gutmütig auf die Schulter. Danach stossen sie mit Gin-Tonic auf mich an.
Tag 12
Ich fühle mich nach wie vor unglaublich. Das Aufstehen morgens bereitet mir keine Probleme, und meine Konzentrationsfähigkeit ist gestiegen. Dem Alkohol will ich für immer abschwören.
Tag 13
Abendessen bei Simone und Felix. Für ihren Weinkeller würde so mancher töten. Zum Essen gibt es einen Shiraz von einem meiner Lieblingswinzer aus dem McLaren Valley in Südaustralien, Jahrgang 1999. Felix weiss Bescheid, meint es gut und stellt mir erst gar kein Weinglas hin. Doch das ist zu viel für mich, ich breche zusammen, bitte Felix um ein Glas und gebe mich dem Teufel hin. Ich bereue nichts.
Tag 14
Ich verachte mich selbst. Wie konnte das nur passieren? Mich plagen Selbstzweifel. Soll ich lieber ganz aufgeben? Nein, das war ein einmaliger Schwächemoment. Und schliesslich war es kein billiger Wodka-Red-Bull-Ausrutscher, sondern ein 1999er-Shiraz. Wenn ich falle, dann zumindest mit Stil.
Tag 16
Ich habe mich wieder unter Kontrolle. Beim Firmenjubiläum verzichte ich auf den Champagner, ohne mit der Wimper zu zucken. In drei Wochen werde ich mich dafür bestimmt ohrfeigen.
Tag 17
Beim Feierabendbier sage ich den Kollegen endlich, was Sache ist, ohne eine Diskussion zuzulassen. Mein "Ich trinke für einen Monat keinen Alkohol, und das ist auch gut so!" kommt so bestimmt rüber, dass danach alle verlegen auf ihr Bier starren. Später erzählen meine Kollegen von Freunden und Verwandten, die ebenfalls anti-alkoholisch leben und bieten an, mich mit ihnen bekannt zu machen.
Tag 20
Mein Freunde treffen sich zu einem Cocktail-Abend, ich verzichte und bleibe zu Hause. Um 23:00 Uhr erhalte ich über WhatsApp Bilder mit perfekt garnierten Cocktails. Ich beginne damit, die ersten Kontakte auf WhatsApp zu löschen.
Tag 27
Hochzeit meiner Cousine. Ich teile mir den Tisch mit den schwangeren Gästen. Mein Schicksal scheint besiegelt.
Tag 29
Der Monat ist fast vorüber. Körperlich fühle ich mich so fit wie nie zuvor. Innerlich bin ich tot. Kein Essen, an dem nicht ein guter Wein an mir vorbei gereicht wird, kein Abend, an dem ich genauso viel Spass habe wie meine Freunde. Ich beginne, über den Sinn des Lebens zu philosophieren.
Tag 31
Es ist vollbracht! Der Monat ist vorüber. Ich habe alle Hochs und Tiefs durchlebt, dachte an manchen Tagen, ich bräuchte nie wieder Alkohol und hätte an anderen fast dafür getötet. Mein Körper hat es mir gedankt, mein Sozialleben wäre fast daran eingegangen. Ist das ein Armutszeugnis? Vielleicht. Ist Alkohol die Lösung? Ich weiss es nicht. Natürlich kann man Spass haben, ohne zu trinken. Aber der soziale Druck, der einen immer wieder verleitet, ist nicht zu unterschätzen. Dennoch ist für mich kein Alkohol auch keine Lösung. Lieber halte ich mich an Paracelsus: Die Dosis macht das Gift.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.