Der Gendefekt Fibrodysplasia Ossificans Progressiva (FOP) ist extrem selten. Die Krankheit, die auch Münchmeyer-Syndrom genannt wird, ist sogar vielen Ärzten unbekannt.
Es ist eine Krankheit, die selten und sogar vielen Ärzten unbekannt ist. Bei dem Münchmeyer-Syndrom handelt es sich um den Gendefekt Fibrodysplasia Ossificans Progressiva (FOP).
Münchmeyer-Syndrom: Die Krankheit gilt als besonders selten
Gerade einmal 40 Betroffene in Deutschland sind bekannt. Statistisch kommt ein Patient auf zwei Millionen Menschen. Die Erkrankung gilt unter den rund 8.000 bekannten Seltenen Erkrankungen daher als besonders selten.
Die Wahl-Berlinerin Nadine Grossmann ist eine der wenigen Betroffenen. Als sie 1991 geboren wird und einer ihrer grossen Zehen deutlich verkürzt ist, messen die Ärzte dem keine weitere Bedeutung zu. "Eine Fehlbildung, nicht weiter schlimm, dachte man damals", so Grossmann. Inzwischen ist klar: Ein grosser Zeh, der schief wächst oder verkürzt ist, kann ein Anzeichen für FOP sein.
Bei FOP-Patienten bildet der Körper durch einen Gendefekt bei der Wundheilung kein Narbengewebe, sondern Knochen. Selbst kleine Verletzungen können dazu führen, dass Gelenke plötzlich unbeweglich werden und sich der Körper langsam versteift. "Die Knochen entstehen dort, wo sie nicht hingehören", erklärt Grossmann.
Bei ihr hat sich an Kiefer, Hüfte und Schulter zusätzliches Knochenmaterial gebildet. Den Kiefer kann sie nur noch fünf Millimeter weit öffnen. "Das Essen dauert sehr lange und ich muss alles sehr klein schneiden", erzählt die 28-Jährige. Herzhaft in einen Apfel beissen, das sei unmöglich. Ein Steak geniessen: mühsam.
Bewegungseinschränkungen behindern Alltag
Ihre Hüfte kann sie nicht mehr strecken, so dass sie nach vorn gebeugt läuft. Ihren rechten Arm kann sie nicht höher als schulterhoch heben. "Wenn ich Dinge aus einem hohen Regal oder Schrank nehmen will, wird es schwierig", so die junge Frau, die auch Probleme hat, sich einen Zopf zu binden.
Bei Patienten wie Nadine Grossmann ist ein molekularer Signalweg überaktiviert, der die normale Skelettentwicklung steuert. Verknöcherungsschübe können auch durch Stürze und Operationen ausgelöst werden. "Operationen sollten daher unbedingt vermieden werden", so Grossmann. Die Verknöcherungen können sich aber auch ohne äusseren Einfluss entwickeln. Manche Betroffene hätten zum Beispiel regelrechte Beulen unter der Haut, entstanden ohne ersichtlichen Anlass.
Das Wissen um die Krankheit sei leider noch nicht sehr verbreitet, bedauert die junge Biochemikerin, die derzeit im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Freien Universität Berlin/Charité an der molekularen Signalübertragung bei FOP forscht. Und sie versucht, mit dem FOP-Förderverein die Krankheit bekannter zu machen. Unter dem Hashtag "#curefop" (zu Deutsch: "Heilt FOP") wollen Betroffene der Krankheit auch in den sozialen Medien ein Gesicht geben. Nadine Grossmann hat sich den Hashtag auf ihren Unterarm tätowieren lassen - unter eine Abbildung ihrer defekten Gensequenz.
Bei ihr habe es vom ersten Schub im Alter von 13 Jahren nicht lange bis zur Diagnose gedauert, nur etwa ein halbes Jahr. "Andere Patienten müssen oft deutlich länger warten oder wissen noch gar nichts von ihrer Krankheit", sagt Grossmann, die Dunkelziffer sei hoch. Bundesweit gäbe es auch nur ein Klinikum, welches viel Erfahrung mit der Erkrankung habe - in Garmisch-Partenkirchen.
Bei vielen seltenen Erkrankungen sei ein langer Weg zur Diagnose ein grosses Problem, erklärt Annette Grüters-Kieslich, Vorstandsvorsitzende der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen, anlässlich des Tages der Seltenen Erkrankungen am 29. Februar. "Aufgrund des Mangels an Informationen und Spezialisten dauert es oft Jahre, bis überhaupt eine zutreffende Diagnose gestellt werden kann." Viele Familien durchliefen Odysseen von Klinik zu Klinik.
Diagnosehilfe per Suchmaschine
Spezielle Suchmaschinen und Apps können inzwischen helfen, den Weg zur Diagnose zu beschleunigen. Wie etwa der "Phenomizer", entwickelt vom Berliner Bioinformatiker Sebastian Köhler und Kollegen. Ärzte und Wissenschaftler weltweit können die Suchmaschine mit einer standardisierten Sprache füttern, Symptome und Krankheitsmerkmale von Patienten eingeben und bekommen dann Vorschläge für Diagnosen.
"Monatlich wird der "Phenomizer" etwa 2.000 bis 3.000 Mal genutzt. Ein Teil der Wissenschaftler-Gemeinde hat verstanden, dass es nicht mehr nötig ist, sich wochenlang in Bibliotheken einzuschliessen und Bücher zu wälzen", sagt Köhler. Gewisse Aufgaben könnten heute Computer übernehmen, sofern sie mit den richtigen Informationen versorgt würden.
"Raffinierte differentialdiagnostische Hilfsmittel sind in der Regel vor allem für den gut ausgebildeten und erfahrenen Arzt hilfreich und eine wirkliche Bereicherung", so der Hamburger Kinderneurologe Alfried Kohlschütter, der sich ebenfalls mit den langwierigen Diagnoseverfahren beschäftigt und die mitunter fatalen Folgen in einem Aufsatz beschrieben hat.
Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Marburg, ist überzeugt, dass neue Technologien für Menschen mit unklaren und/oder seltenen Erkrankungen segensreich sind und in den kommenden Jahren enorm weiterhelfen werden.
Er und seine Kollegen nutzen beispielsweise den "Phenomizer" regelmässig. Dieser habe bereits oft bei der Diagnosefindung in komplexen Situationen geholfen, so Schäfer. "Das Tool dürfte zum "Standardprogramm" in jedem Zentrum für seltene Erkrankungen gehören, ebenso wie Suchmaschinen wie FindZebra, Orphanet, Isabel und viele andere mehr", ist er überzeugt.
Therapiemöglichkeiten oft gering
"Wenn es dann endlich eine Diagnose gibt, zerschlagen sich nicht selten alle Hoffnungen auf Hilfe, weil viele seltene Krankheiten und Syndrome äusserst komplex, aber nahezu unerforscht sind", nennt Grüters-Kieslich ein weiteres Problem. Die Forschung an seltenen Erkrankungen sei nicht besonders attraktiv für Nachwuchswissenschaftler, es fehle an Geld und strukturierten Ausbildungs- und Karrierewegen. "Hier brauchen wir eine gemeinschaftliche Initiative von öffentlicher Hand, privaten Partnern und Zivilgesellschaft", fordert sie.
Zumindest für die Therapie der Krankheit FOP gibt es Hoffnung: Die Dresdner Wissenschaftlerinnen Martina Rauner und Ulrike Baschant haben einen Therapieansatz entwickelt, der die Verknöcherung von Weichteilgeweben verhindern soll. "Erste Tests an Mäusen waren vielversprechend", sagt Baschant. Weitere Untersuchungen sollen folgen. Die Entwicklung eines Medikaments für Menschen könne aber noch einige Jahre dauern. Die Köhler-Stiftung und der Verein Allianz für Seltene Erkrankungen (ACHSE) zeichnen die Forscherinnen in diesem Jahr für ihre Arbeit mit einem mit 50.000 Euro dotierten Preis aus.
Nadine Grossmann findet den Ansatz "sehr interessant", merkt aber auch an, dass er noch in den Kinderschuhen stecke und man weitere Ergebnisse abwarten müsse. Sie versucht, sich fit zu halten und ihre Lunge mit Singen im Chor und Querflöte zu kräftigen. "Durch die eingeschränkte Beweglichkeit des Brustkorbes kann es dazu kommen, dass Patienten an Atemnot leiden", so Grossmann. Dies müsse aber nicht zwangsläufig der Fall sein. "Bei jedem verläuft die Krankheit anders." (dpa/wag)
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