• Mitleidsmüdigkeit, Compassion fatigue oder sekundäre Traumatisierung betrifft Ersthelfer, Notärzte, Polizisten oder Psychologen.
  • Die Betroffenen stumpfen ab und empfinden kein Mitleid mehr, wenn sie es mit Menschen zu tun haben, die durch durch Gewalt sowie sexuelle Gewalt, Krieg, Tod oder Verletzungen traumatisiert wurden.
  • Mitleidsmüdigkeit hat nichts mit Burn-out zu tun, sondern ist eine Trauma-Folgestörung.

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Das Mitfühlen und die Anteilnahme am Leid anderer ist menschlich und ein positiver Zug. Haben die zu Bemitleidenden allerdings unfassbares Leid erlebt und sind traumatisiert, kann dieses Leid auch auf die Helfenden übergehen.

"Bislang wurde Mitleidsmüdigkeit, auf Englisch Compassion fatigue, gebraucht, wenn es um Menschen in Berufen geht, die Traumatisierungen mitbekommen. Das sind Ersthelfer, Nothelfer oder Ärzte bei Unfällen oder Katastrophen, manchmal Personal in militärischen Einrichtungen oder auch Polizisten, die mit den Opfern von sexueller Gewalt konfrontiert werden", sagt Andreas Maercker vom psychologischen Institut der Universität Zürich.

Auch Psychologen und Sozialarbeiter können davon betroffen sein. "Die können irgendwann dieses unfassbare Leid nicht mehr ertragen", so der Experte. Die neutralere Bezeichnung sei deshalb eigentlich "sekundäre Traumatisierung" oder "sekundäre Traumafolgen".

"Mitleidsmüdigkeit" ist Begriff aus der Traumaforschung

Der Begriff Compassion fatigue gründet folglich in der Traumaforschung. Diese beschäftigte sich anfangs mit der sekundären Traumatisierung durch Beobachtungen aus Kriegs- und Nachkriegsgeschehen. In Militär-Krankenhäusern für Kriegsverletzte aus dem Vietnamkrieg wurde beispielsweise festgestellt, dass die in den Kliniken arbeitenden Menschen ähnliche und sogar gleiche Symptome entwickelten wie die Kriegstraumatisierten.

"Diese Ersthelfer und direkten Kontaktpersonen zu schwer traumatisierten Menschen brechen selber zusammen, weil ihnen die Konfrontation mit dem Tod und extremem Leiden zu schwierig ist. Das kann zum Beispiel auch das Personal auf Intensivstationen betreffen, wenn Kinder sterben", so Maercker. Auch in Ausnahmesituationen während der Corona-Pandemie könnte es zu Fällen von Compassion fatigue gekommen sein, etwa während sie in Norditalien gewütet hat und es zu vielen Toten sowie der Triage kam.

Im Frühling 2020 mussten Ärzte und Pfleger dort entscheiden, wer noch behandelt wird und für welchen Patienten sie kein Beatmungsgerät mehr zur Verfügung stellen. Zudem starben so viele Menschen, dass man in den Kliniken kaum mehr wusste, wo man die Leichen unterbringen kann.

Helfer fühlen kein Mitleid mehr

Die Mitleidsmüdigkeit - oder das sekundäre Trauma - äussert sich durch eine Art Handlungsunfähigkeit. "Dann kommt es zu einer Abstumpfung. Die Betroffenen können nicht mehr weiter und sagen von sich, sie seien wie gelähmt. Sie haben den Tod vor Augen und können nicht mehr", erklärt der Traumaforscher. Sie seien dann erfüllt von eigenen Ängsten. Zudem empfinden sie in dem Moment kein Mitleid mehr für Opfer, Verletzte, Tote und Schwerstkranke.

Allerdings handelt es sich bei Compassion fatigue um kein eigenes Krankheitsbild, sondern vielmehr um ein Zustandsbild. Deshalb kommt es auch meist zu keiner Psychotherapie. "Es ist eigentlich eine Trauma-Folgestörung", sagt Maercker. Aus einer solchen kann sich eine sekundäre traumatische Belastungsstörung entwickeln.

Auch wenn in der deutschen Übersetzung das Wort "Müdigkeit" steht, ist Compassion fatigue keineswegs mit Burn-out in Zusammenhang zu bringen. "Burn-out ist etwas ganz anderes", betont Maercker. "Das ist eine psychische Erkrankung, die jeden treffen kann. Dann fühlt man sich in einem normalen Arbeitsalltag überfordert, wird depressiv oder ängstlich. Das hat nichts mit dem Tod oder Sterben anderer zu tun."

"Länger als 48 Stunden hält das keiner aus"

Für Ersthelfer, Ärzte, Intensivpersonal und Psychologen, die mit derart schwer belasteten Opfern von Gewalt, Krankheit und Tod konfrontiert sind, ist es wichtig, selber immer wieder aus dieser belastenden Situation heraus zu kommen. "Länger als 48 Stunden kann das auch in Extremsituationen keiner aushalten, ohne dass die eigenen Kräfte zusammenbrechen", weiss der Experte.

Die meisten in diesen Berufsfeldern wüssten das auch von sich und ihnen sei klar, dass auch, wenn sie versuchen könnten, noch mehr Menschen zu retten, sie sich um sich selber kümmern und zum Beispiel schlafen müssen.

Austausch mit Kollegen ist wichtig

Wichtig ist es zudem, das Erlebte und Gesehene zu verarbeiten. "Dann geht es auch um so was wie Trauma-Bewältigung", so der Experte. "Nämlich dass man sagt: Das ist fürchterlich, dass ich jetzt hier mit Sterbenden, mit Leichen zu tun habe." Dessen sollten sich die Betroffenen von sekundärer Traumatisierung klar werden: Dass zu viel Sterben und Tod nur ganz schwer zu ertragen ist. Auch Gespräche mit anderen, wie etwa der Austausch mit Kollegen, sind dann wichtig.

Das psychologische Phänomen der Compassion fatigue wird mittlerweile ernst genommen und auch als Berufsrisiko für zum Beispiel Erst- und Nothelfer diskutiert. Der Traumaforscher Maercker mahnt jedoch dazu, den Begriff Compassion fatigue keineswegs inflationär benutzen, sondern ihn mit Bedacht zu wählen.

"Es wird jetzt ein bisschen versucht, den Begriff auch auf pflegende Angehörige anzuwenden, aber diese Übertragungsmöglichkeit ist noch nicht klar, sondern es sprechen eher gute Gründe dagegen."

Über den Experten: Prof. Dr. Dr. Andreas Maercker ist Leiter des Forschungsbereiches Psychopathologie und Klinische Intervention am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Einer seiner Forschungsschwerpunkte sind Traumafolgestörungen.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Prof. Dr. Dr. Adreas Maercker
  • Figley, C.R. (1995a). Compassion Fatique. Coping with Secondary Traumatic Stress Disorder in those who Treat the Traumatized. New York: Brunner.
  • Janoff-Bulmann, R. (1992). Shattered Assumptions: Towards a New Psychology of Trauma. New York: The Free Press
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