Nach über 20 Jahren Ehe haben Anna Weiss und ihr Mann ihre Beziehung geöffnet. Im Interview mit unserer Redaktion spricht die Autorin des Buchs "Co-Fucking" über das Tabuthema offene Ehe, Vertrauen und Sex mit Fremden.
Brauchen wir wirklich Monogamie, um uns in einer Beziehung unsere Liebe zu beweisen? Auf diese Frage hat Anna Weiss eine deutliche Antwort: Nein.
Vor fünf Jahren öffneten die Autorin und ihr Mann ihre Ehe – ein Schritt, der die Partnerschaft des Paares auf eine neue Ebene gehoben hat, wie sie sagt. Anna Weiss hat über ihre Erfahrungen, Vorteile aber auch die Tabuisierung offener Beziehungen ein Buch namens "Co-Fucking" geschrieben. Im Interview mit unserer Redaktion spricht sie über ihren Weg in die offene Ehe, Dating-Regeln und die Tabuzone, in der sich weibliche Lust auch im Jahr 2024 noch befindet.
Frau Weiss, Sie sind seit 25 Jahren mit Ihrem Ehemann zusammen. Wie kam es zu der Überlegung, die monogame Beziehung zu öffnen?
Anna Weiss: Das war im Sommer vor fünf Jahren. Mein Mann war einige Zeit mehr in sich gekehrt, wehrte meine Fragen jedoch ab. Eines Abends aber, als wir gerade mit einem Eis in der Hand spazieren gingen, hakte ich nach – und bekam eine Antwort: "Du weisst ja, dass ich auch auf Männer stehe. Das würde ich gern ausleben, mit dir an meiner Seite", sagte er.
Wie haben Sie reagiert?
Ich war fassungslos und bekam wahnsinnige Angst. "Das ist der Anfang vom Ende", dachte ich mir. Denn wie sollte so etwas funktionieren? Das konnte ich mir damals nicht vorstellen. Wir haben danach viel miteinander geredet und mein Mann hat mir dabei immer wieder klargemacht, dass er mich liebt und sein Leben weiterhin mit mir verbringen will. Ich verstand, dass er das alles mit mir – und nicht ohne mich – machen wollte. Das brachte mich zum Umdenken: Brauchen wir wirklich Monogamie, um uns unsere Liebe zu beweisen? Nein!
Wann und wie haben Sie Ihrem Umfeld gegenüber kommuniziert, Ihre Ehe geöffnet zu haben?
Das haben wir erst nach einer Weile getan, als sich bei uns die erste Aufregung gelegt hatte. Wir mussten erst einmal selbst mit dem emotionalen Durcheinander klarkommen, bevor wir mit anderen darüber reden konnten. Wir waren jedes Mal ziemlich nervös – aber letztendlich haben alle Freundinnen und Freunde super reagiert.
Was bedeutet die offene Beziehung für Ihre Ehe?
Wir haben jetzt nicht nur mehr, sondern auch besseren Sex. Vor allem aber hat uns die offene Beziehung näher zusammengebracht. Wir waren vorher schon sehr eng. Jetzt aber vertrauen wir uns noch mehr. Wir geben uns Freiheiten, wissen gleichzeitig aber auch, dass wir uns das Wichtigste im Leben sind – das ist ein wahnsinnig tolles Gefühl! Deswegen sage ich mittlerweile auch: Die offene Ehe ist für mich die ehrlichste Form der Liebe.
Und was bedeutet die offene Beziehung für Sie persönlich?
Sehr viel! Auch wenn ich es anfangs für undenkbar hielt: Ich lebe das Leben, das ich möchte. Deswegen habe ich auch "Co-Fucking" geschrieben. Ich möchte anderen Menschen Mut machen, über andere Beziehungsformen nachzudenken. Denn selbst wenn man sich nach dem Lesen von "Co-Fucking" gegen eine offene Beziehung entscheidet, ist man hoffentlich offener für Neues – und ich bin mir sicher, dass uns allen mehr Offenheit guttun würde.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass der Wunsch Ihres Mannes nach einer offenen Ehe Sie zunächst in fremde Betten und dann zu sich selbst gebracht hat. Inwiefern spielt hierbei nicht nur die sexuelle, sondern eben auch die persönliche und selbstbestimmte Komponente eine Rolle?
Eine sehr grosse! All die Dates und Treffen haben mich selbstbewusster gemacht. Ich habe gemerkt, dass ich Grenzen ziehen muss, wenn ich etwas nicht möchte. Finde ich den Typen total unsympathisch? Dann muss ich das Date beenden. Und wenn ich an einem Tag nur knutschen, aber keinen Sex will, muss ich das sagen. Früher habe ich ungern "Nein" gesagt, in der Familie und bei der Arbeit. Heute stehe ich viel mehr für mich ein. Eine der grössten Veränderungen war beruflich: Ich habe meinen Job gekündigt und mich selbständig gemacht. Jetzt bin ich meine eigene Chefin.
Der Gedanke, Sex mit Fremden zu haben, erscheint monogam lebenden Menschen häufig nur schwer umsetzbar. Wie war das zu Beginn der Öffnung bei Ihnen?
Das ging mir genauso! Wie soll ich mit fremden Menschen ins Bett gehen, mich nackt vor ihnen ausziehen? Das konnte ich mir zuerst überhaupt nicht vorstellen. Dann aber war ich doch neugierig, habe es zum ersten Mal ausprobiert, nach 20 Jahren, in denen ich nur mit meinem Mann Sex hatte – und hatte Spass! Es war einfach nur Sex, mehr nicht. Das hat bei mir einen Schalter umgelegt. Ich habe gemerkt, dass das meine Liebe für meinen Mann nicht verringert, sondern eher noch vergrössert: dass wir uns so vertrauen und uns diese Freiheiten geben!
Gibt es gewisse Regeln oder eine Art Vetorecht, die Sie und Ihr Mann vereinbart haben? Sie schreiben in Ihrem Buch, die offene Ehe sei nämlich kein "Freifahrtschein zum Herumvögeln" …
Ja, die haben wir. Sex nur mit Kondom, das war unsere erste Regel. Ein Vetorecht haben wir nicht explizit festgelegt, das ist auch noch nicht vorgekommen. Aber klar: Wenn einer von uns Bauchschmerzen mit einem Date hätte und das sagen würde, dann würde der oder die andere natürlich nicht hingehen. Unsere Beziehung steht an erster Stelle.
Also werden Dates innerhalb Ihrer Ehe kommuniziert?
Ja, das ist ebenfalls eine Regel: Wir sagen uns immer genau, mit wem und wo wir sind. So fühlen wir uns beide sicherer. Auch sonst sprechen wir über die Dates. Was hast du erlebt? Was war anders als sonst? Uns ist diese Offenheit wichtig.
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Kommunizieren Sie bei Ihren Dates, dass Sie verheiratet sind und in einer geöffneten Beziehung leben?
Ja. In den Dating-Apps haben wir das beide in unseren Profiltexten stehen und weisen auch in den Chats nochmal darauf hin. So kommt es zu keinen Missverständnissen und alle Seiten wissen, worauf sie sich einlassen.
Können Sie sich vorstellen, die Beziehung auch irgendwann wieder zu schliessen und zurück in die Monogamie zu kehren?
Ehrlich gesagt nicht. Vielleicht kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem wir beide keine Lust mehr auf andere Menschen haben. Für uns wäre das aber trotzdem noch eine offene Beziehung, weil es dabei nicht nur um Sex geht, sondern um eine Grundeinstellung und um Freiheiten, die man sich gegenseitig gibt.
In einer Studie rund um offene Beziehungen aus dem Jahr 2023 äusserten Frauen öfter die Befürchtung, dass ihnen die Gefahr, sich bei einem mehrgleisigen Sexualleben zu verlieben, zu gross erscheine. Können Sie diesen Gedanken nachvollziehen?
Nein. Frauen haben auch einfach mal nur Lust auf Sex, ohne dabei gleich an Nestbau zu denken. Ich glaube, dass uns Frauen lange Zeit sehr erfolgreich das Gegenteil eingeredet wurde. Die freie weibliche Sexualität wurde über Jahrhunderte hinweg tabuisiert – und wird es noch heute oft.
Verliebt man sich "einfach so"? Ist man dann nicht sowieso in der bestehenden Beziehung unzufrieden und sehnt sich nach etwas anderem? Ich jedenfalls habe mich noch nie neu verliebt, egal, wie schön ein Date war. Und selbst wenn: Es gibt ja Menschen in polyamoren Beziehungen. Liebe ist kein Kuchen, den man aufteilt. Man liebt doch auch das erste Kind nicht weniger, wenn das zweite da ist.
Wo stehen wir im Jahr 2024, wenn es um die Akzeptanz und Offenheit rund um offene Beziehungsmodelle geht?
Seltsamerweise sind Affären und Seitensprünge noch immer normaler als offene Ehen. Dabei wird in offenen Beziehungen niemand bewusst hintergangen, was für mich ein klarer Vorteil ist. Doch es ist einfacher zu lügen, als ehrlich zu sein – auch sich selbst gegenüber. Was möchte ich? Was will ich von dir? Das trauen sich viele nicht zu sagen, vielleicht wissen sie es auch nicht. Gerade in Langzeitbeziehungen verdrängen viele ihre Sehnsüchte und werden unglücklich. Aber das muss nicht sein. Denn wie ich selbst erlebt habe, lohnt es sich, für die eigenen Wünsche einzustehen. Dann kann etwas Spannendes und Neues daraus entstehen. Traut euch!
Über die Gesprächspartnerin
- Anna Weiss hat in Berlin Kommunikationswissenschaften studiert und viele Jahre im In- und Ausland als Autorin und Marketing-Expertin gearbeitet. Als sie durch die offene Ehe verstand, was sie – nicht nur sexuell – wirklich wollte, kündigte sie ihren Job. Nun lebt und arbeitet sie als Freelancerin gemeinsam mit ihrem Mann, den sie schon in der Schulzeit kennengelernt hat, in Berlin und in der Welt. Ihr Buch "Co-Fucking" ist beim GU Verlag erschienen.
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