In den sozialen Medien kursieren immer wieder Videos, in denen Menschen von ihren Ick-Momenten mit potentiellen Partnern und Partnerinnen erzählen. Was verbirgt sich dahinter? Darüber haben wir mit Dr. Nasanin Kamani gesprochen.
Frau Kamani, was ist ein Ick-Moment?
Dr. Nasanin Kamani: Ein Ick-Moment bedeutet, dass eine bestimmte Verhaltensweise oder Eigenschaft dazu führt, dass der andere für uns schlagartig an Attraktivität verliert. Dabei kann es sich um eine vermeintliche Kleinigkeit handeln.
Was wäre so eine Kleinigkeit?
Zum Beispiel, wenn die andere Person beim Schreiben Flüchtigkeitsfehler macht oder für meinen Geschmack zu lange Nachrichten formuliert. Es kann aber auch die Art sein, wie er oder sie lacht oder bestimmte Gesten ausführt.
Was löst so ein Ick-Moment bei uns aus?
Man empfindet schlagartig eine Abneigung, die eigentlich nicht in Relation zu dem Ick steht. Es kommt zu einer unverhältnismässig negativen Bewertung, die das ganze Kennenlernen in Frage stellen kann.
Dann hat ein Ick-Moment sehr viel mit der Person zu tun, die diesen Ick-Moment empfindet?
Genau. Je nach Situation und Dating-Dynamik – und je nach eigener Verfassung – könnten mich Dinge stören, die mir vorher kaum aufgefallen sind.
Was meinen Sie damit?
Wenn ich zum Beispiel datingmüde und entnervt bin, dann könnte ich anfälliger dafür sein, Ick-Momente zu erleben und vermeintliche No-Gos intensiver wahrzunehmen. Aber auch Frustration und Gereiztheit aufgrund von beruflichem oder privaten Stress könnten die Ick-Schwelle senken. Es könnte sich sogar um eine unbewusste Strategie handeln, um Spannungen abzubauen.
Ist ein früher Ick-Moment ein Zeichen dafür, dass der potentielle Partner*in nicht zu uns passt?
Wenn er gleich zu Beginn auftritt, könnte er ein Indiz dafür sein, dass keine ausreichende Anziehung herrscht. In solchen Fällen möchte man sich vielleicht dazu überreden, der Person eine Chance zu geben, obwohl der Funke nicht überspringt. Aber auch negative Erlebnisse und Trennungen, die noch nicht vollständig verarbeitet wurden, können mich insgeheim abhalten. In beiden Fällen könnten Ick-Momente ein Ausweg unseres Unterbewusstseins sein, um das Beenden durch einen konkreten, wenn auch banalen Grund, zu erleichtern.
Mit meinem Gegenüber hat der Ick-Moment also gar nicht so viel zu tun?
Nicht unbedingt. Möglich wäre aber auch, dass ich in Bezug auf mein Gegenüber Warnsignale registriere, die ich noch nicht richtig einordnen kann und auf einen Ick-Moment übertrage.
Zum Beispiel?
Eine präsente Ex-Beziehung, das Ausstrahlen von Unverbindlichkeit. Bestimmte alarmierende Charakterzüge wie ein auffallend hohe Kritikempfindlichkeit oder die Tendenz, andere abzuwerten. Vielleicht nehme ich diese Dinge wahr, ohne sie bewusst zu erkennen – während der Ick-Moment auf den ersten Blick viel greifbarer wirkt. In diesem Fall wäre er ein schützender Vorwand, um mich zu distanzieren.
"Ich kann mir Zeit nehmen, das Gefühl erstmal stehen lassen und weiter beobachten."
Welche Fragen sollte man sich stellen, wenn man einen Ick-Moment hatte?
Übertrage ich vielleicht meinen persönlichen Frust auf die Person? Habe ich aktuell überhaupt die Bereitschaft, mich auf jemanden einzulassen? Fühle ich mich wirklich zu der Person hingezogen oder setze ich mich selbst unter Druck, um mir etwas zu beweisen und die Hoffnung zu bewahren? Oder könnte der Ick-Moment ein Hinweis auf mögliche Red Flags sein, um die Bindung nicht vorschnell zu vertiefen?
Wann würden Sie raten, erstmal Ruhe zu bewahren?
Wenn es zuvor eine vielversprechende Entwicklung gegeben hat und der Ick-Moment sehr plötzlich auftritt, würde ich dem Kennenlernen weiter Zeit und Raum lassen.
Sollte ich ein Ick mitteilen?
Kommunikation ist grundsätzlich gut und wichtig, aber ich muss die andere Person nicht zu jedem Zeitpunkt wissen lassen, was ich fühle. Insbesondere, wenn ich dahingehend selbst noch irritiert bin und die schlagartige Unsicherheit nicht einordnen kann. Ich kann mir Zeit nehmen, das Gefühl erstmal stehen lassen und weiter beobachten – vielleicht verflüchtigt sich dieser Ick-Moment im Verlauf.
Eventuell verpasst man sonst die Chance auf eine gute Beziehung?
Das könnte in der Tat der Fall sein, besonders wenn es bereits schöne gemeinsame Erlebnisse und positive Gefühle gegeben hat.
Was ist, wenn der Ick-Moment nach einer gewissen Zeit erneut auftaucht und einen immer noch stört? Soll man das dann ansprechen?
Sollte es sich um Eigenschaften handeln, die einfach zum Wesen der anderen Person dazugehören – wie etwa die Stimme, der Humor, die Art, sich zu bewegen – dann würde ich davon abraten. Auch bei optischen Merkmalen sollte man sehr vorsichtig sein, um die Gefühle der anderen Person nicht zu verletzen. Solche Icks anzusprechen, ist in den meisten Fällen wenig konstruktiv. Wenn man das Gefühl hat, die Person direkt schon ab Tag eins grundlegend ummodellieren zu wollen, dann passt es vielleicht einfach nicht.
"Da wäre es hilfreich zu reflektieren und die eigenen Erwartungen zu überprüfen."
Welche Icks würden Sie ansprechen?
Wenn man sich nähergekommen ist und Vertrauen gefasst hat, kann man vielleicht Dinge ansprechen, die nicht so persönlich oder verletzend sind. Zum Beispiel, wenn man sich an etwas festgebissen hat, wie: der andere benutzt in jeder Nachricht eine Flut an Emojis oder trägt Mützen in knalligen Farben – etwas in der Grössenordnung. Humor eignet sich hierbei gut, ebenso wie Ich-Botschaften. Man könnte zum Beispiel sagen, dass man ein Rechtschreib-Junkie ist oder ein generelles Problem mit grellen Farben hat.
Schleichen sich in langen Beziehungen zwangsläufig "kleine" Dinge ein, die uns am anderen stören oder ist das ein Warnsignal?
Manchmal kann der Übergang von aufgeregter Verliebtheit in eine vertrauensvollere, tiefere Bindung schwer zu akzeptieren sein. Es handelt sich oft um eine kritische Phase, in der die Toleranzschwelle sinken kann. Durch die hormonelle Veränderung und den Gewöhnungseffekt stellt sich nun mal eine gewisse Ruhe ein, was zu Schlupflöcher für Icks führen kann. Da wäre es hilfreich zu reflektieren und die eigenen Erwartungen zu überprüfen: Bin ich wirklich bereit für eine Beziehung? Ob Freundschaft oder Partnerschaft: Je länger und intensiver eine Bindung wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass man auf Dinge stösst, die man nicht als ideal empfindet. Das ist menschlich, das gehört dazu.
Über die Gesprächspartnerin
- Dr. Nasanin Kamani ist Ärztin im Bereich Psychiatrie und Psychotherapie und Autorin des erzählenden Ratgebers "Date Education".