Nach einer toxischen Beziehung wünschen sich viele Betroffene nichts sehnlicher als eine stabile Partnerschaft. Oft gestaltet sich das aber schwieriger als erhofft. Warum das so ist, erklärt der Diplom-Psychologe Christian Hemschemeier im Interview mit unserer Redaktion.
Herr Hemschemeier, nehmen wir an, jemand hat eine toxische Beziehung hinter sich und wünscht sich nun eine gesunde. Wie geht derjenige oder diejenige am besten vor?
Christian Hemschemeier: Erstmal rate ich dazu, eine Dating-Pause einzulegen. Durch die toxische Beziehung hat sich der Körper an das Drama und den Rausch gewöhnt, daher müssen sich die Rezeptoren im Gehirn wieder beruhigen und normalisieren. Sonst kann man eine stabile Beziehung schwer wertschätzen. Und wenn man wieder datet, sollte man seinen eigenen Standards treu bleiben und toxische Dating-Prozesse sofort beenden.
Das klingt im ersten Moment gar nicht so schwierig …
Ja, allerdings ist das, was wir uns wünschen, nicht immer das, was wir wieder anziehen. Viele schwören, dass es ihnen nie wieder passiert, aber dann suchen sie sich doch wieder den gleichen Typ aus. Das liegt oftmals an der Prägung ihrer Kindheit: Man hat eine gewisse Gewöhnung an das Drama. Daher funktioniert es nicht sofort. Jedoch ist es schon so, dass man irgendwann erkennt, dass es immer die gleichen Muster sind. Und dadurch die toxischen Dating- und Beziehungsprozesse immer schneller beendet.
Verändert man dadurch automatisch seine Partnerwahl?
Erstmal nicht, auch das ist ein Prozess. Menschen, die toxische Beziehungen gewöhnt sind, können mit ruhigen Partnern oftmals nichts anfangen. Diese werden meistens sofort aussortiert, weil die Chemie nicht stimmt oder keine Gefühle entstehen. Und dadurch geraten sie wieder an einen Menschen, der typischerweise nach rund drei Monaten die eigenen Grenzen überschreitet. Man hat zwar keine Verantwortung dafür, dass der andere einen schlecht behandelt, aber man muss verstehen, dass nicht alle Menschen so sind, sondern man sich unterbewusst immer wieder ungeeignete Partner aussucht. Und sobald man das verstanden hat, kommt der Punkt, dass man ausserhalb seines Beuteschemas datet. Das Problem ist nur, dass viele dann genau das Gegenteil daten und in ein anderes Extrem kommen.
Inwiefern?
Frauen daten zum Beispiel nicht mehr den Typ "Bad Guy", sondern bewusst einen netten Mann, der ihnen dann aber zu lieb und zu bedürftig ist. Mit diesen Männern können Betroffene toxischer Beziehungen oft nichts anfangen, weil sie meistens unter Bindungsangst leiden und sie zu viel Nähe als erdrückend empfinden. Das heisst, sie müssen jemanden finden, der nicht zu narzisstisch ist, aber gleichzeitig auch nicht zu bedürftig und zu nett. Das gestaltet sich schwierig. Aber nehmen wir an, es klappt irgendwann. Dann ist das Aushalten einer gesunden Beziehung für viele Menschen schwerer, als toxische Dating-Prozesse zu beenden.
Warum?
Für Betroffene einer toxischen Beziehung fühlt sich eine gesunde Beziehung oft etwas zu ruhig an und sie müssen erst verstehen, dass Liebe nicht gleichbedeutend ist mit einer extremen Leidenschaft und Drama. Viele verwechseln Intensität mit einer echten Intimität. Daher müssen sie erst einmal lernen, eine stabile Partnerschaft auszuhalten, also den Frieden und die Harmonie wertzuschätzen.
Das bedeutet, es fehlt ihnen in der gesunden Beziehung das Drama oder der Kick?
Ja, weil man ein rauschorientiertes Leben gewohnt ist. Das ist ähnlich wie wenn man immer nur Pizza gegessen hat und der Arzt einen auf Salat umstellt. Dann müssen sich auch erst die Geschmacksnerven daran gewöhnen, dass gesundes Essen lecker ist. Und so ist es nach toxischen Beziehungen auch. Auf der anderen Seite können Partner, die gesunde Beziehungen gewöhnt sind, den anderen oftmals nicht verstehen. Sie brauchen nicht das Drama und empfinden eine stabile Partnerschaft als erfüllend. Allerdings besteht dann die Gefahr, dass die Betroffenen einer toxischen Beziehung, die früher in der Opferrolle waren, auf die Täterseite wechseln.
Können Sie das näher erläutern?
Bei Täterschaft denken wir oft an Menschen, die psychopathisch veranlagt sind, also intentional anderen Menschen schaden möchten. Das ist aber eher die Ausnahme. Was wir dabei vergessen, sind die Alltagssituationen, wo Menschen zum Täter werden, sich dessen aber nicht bewusst sind.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Aus meiner Praxis kenne ich Klienten, die chronisch fremdgehen und überhaupt kein Unrechtsbewusstsein haben. Sie denken, dass es ihnen zusteht und dass es den Partner nicht stören würde. Das ist ein unbewusster Prozess, der oftmals in Gang gesetzt wird, wenn das Drama in der gesunden Partnerschaft fehlt. Dadurch kann es passieren, dass man die gleichen Muster verfolgt, die man dem Ex-Partner in der toxischen Beziehung vorgeworfen hat.
Was raten Sie Betroffenen, die den Kick oder das Drama vermissen?
Erstmal sollte man sich eingestehen, dass das Problem nicht beim Partner liegt, sondern bei einem selbst. Und es ist wichtig zu verstehen, dass man das Gehirn nicht komplett umprogrammieren kann. Daher sollte man bei der Partnerwahl darauf achten, dass man sich ein nicht zu grosses Extrem aussucht. Und ein weiterer Tipp ist, dass man sich den Kick ausserhalb der Beziehung sucht. Natürlich nicht im Fremdgehen, sondern zum Beispiel über Extremsportarten. Das ist zwar nicht das gleiche, aber es kompensiert zumindest den Bedarf an Adrenalin und Dopamin.
Und wie sollte man damit umgehen, wenn man auf der anderen Seite steht, also wenn der Partner eine toxische Beziehung hinter sich hat?
Erstmal ist kein Partner perfekt. Jeder hat seine Themen. Die Forschung zeigt, dass Menschen, die auf der Opferseite von toxischen Beziehungen waren, sich an der Seite von einem bindungssicheren Partner gut entwickeln. Es bedarf am Anfang der Beziehung sicherlich etwas mehr an Arbeit, aber es sollte definitiv eine Entwicklung erkennbar sein, sodass die Beziehung in ein ruhiges Fahrwasser kommt. Das gilt für beide Partner. Und natürlich sollte man ein gewisses Verständnis für den anderen aufbringen. Dennoch sollte man klare Grenzen setzen und nicht alles hinnehmen. Man kann Verständnis dafür haben, dass ein Bindungsängstler etwas mehr Raum braucht, das bedeutet aber nicht, dass ich akzeptieren muss, dass er oder sie fremdgeht, um die Beziehung aufzupeppen.
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Über den Gesprächspartner:
- Christian Hemschemeier ist Diplom-Psychologe und Beziehungsexperte in Hamburg. Er hat mehrere Bücher geschrieben, sein aktuelles Buch trägt den Titel "Feuer & Flamme: Warum echte Leidenschaft die Polarität von männlicher und weiblicher Energie braucht".
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