Wenn sich eine Person ohne ein Wort aus dem gemeinsamen Leben verabschiedet, lässt das den anderen nicht nur ratlos zurück, sondern tut auch oft fürchterlich weh. Was Menschen dazu bewegt, andere zu ghosten und wie Betroffene damit umgehen können.

Ein Interview

Ghosting. Selten hat ein Wort besser gepasst. Es ist, als wäre der Geist der anderen Person noch im Raum, ihre Präsenz, als könnte man ihr Lachen noch hören, ihr Parfüm riechen. Was aber veranlasst Menschen dazu, sich ohne Erklärung, ohne Abschied davonzuschleichen? Und warum kommen manche Geghostete oft nur sehr schwer darüber hinweg?

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Anja Wermann. © Matthias Friel

Die Psychologin Anja Wermann spricht in ihrer "Ghosting-Ambulanz" in Berlin mit Betroffenen genau über diese Themen. Sie hat schon oft gehört, dass ihre überwiegend weiblichen Klientinnen Ghosting mit einem plötzlichen Todesfall vergleichen. Und die Verarbeitung gleicht tatsächlich oft der von Trauerarbeit: Wut, Verzweiflung, Akzeptanz und viele andere Emotionen im Wechsel.

Im Interview spricht Wermann darüber, welche Fragen und ganz konkreten Übungen Betroffenen bei der Verarbeitung helfen können und wieso eine "Geisterjagd" keinen Sinn macht - einen Spürhund loszuschicken, hingegen schon.

Frau Wermann, warum ghosten Menschen andere Menschen?

Das hat unterschiedliche Gründe. Manche scheuen den Konflikt, wollen nicht der Böse sein und sich der Reaktion der Gegenseite aussetzen. Dahinter steckt der Gedanke: Einfach abtauchen und gut ist es. Anderen ist es vielleicht tatsächlich nicht wichtig. Das hängt mit einer Wisch-und-weg-Mentalität zusammen, die man etwa durch Tinder oder beim Online-Shopping kennt: Gefällt mir nicht, geht retour. Wenn wir nicht aufpassen, kann das Auswirkungen darauf haben, wie wir allgemein denken. Ein Studienergebnis von Guido Gebauer, der auf seiner Datingplattform eine Umfrage zum Thema Ghosting gemacht hat, hat mich besonders überrascht. Viele gaben dort an, zu ghosten, um die andere Person nicht zu verletzen.

Eine Rechnung, die nicht wirklich aufgeht.

Genau. Die andere Seite denkt, einfach zu verschwinden sei schonender, als zu sagen, was für sie nicht passt. Das Fatale ist, dass die Menschen, die geghostet werden, dann zum Teil über Jahre nachgrübeln. Viele, die in meine Beratung kommen, wollen von mir dann eine Antwort auf die Frage nach dem Warum.

Suchen Sie dann gemeinsam nach möglichen Gründen und werden zur "Geisterjägerin"?

Nein. Ich kann eine Vermutung aussprechen, aber ich kenne die andere Person nicht. Eigentlich geht es auch um etwas anderes: Es ist oft so, dass die Menschen mit den Gedanken stark bei dem "Ghost" sind und sich fragen, warum er das gemacht hat, ob er zurückkommt oder was sie ihm sagen würden. In diesem Moment sind sie von sich selbst entfernt. Es geht in der "Ghosting-Ambulanz‘" darum, den Fokus wieder auf sich selbst zu lenken, den Schmerz aufzufangen und wieder handlungsfähig zu werden. Dabei sind diese Fragen wichtig:

  • Was macht die Situation mit mir?
  • Was tut jetzt gerade am meisten weh?
  • Wie kann ich mit der Situation umgehen und gut weiterleben?

Was tun, wenn man nach dem Ghosting die Schuld bei sich selbst sucht?

Das Spannende ist eigentlich nicht die Frage, warum die andere Person das gemacht hat, sondern wie ich es interpretiere. "Ich bin nicht gut genug" oder "Ich habe etwas falsch gemacht" sind oft die negativen Glaubenssätze dahinter, also innere Überzeugungen, die schon zuvor bestanden. Ghosting lässt meistens nichts Neues entstehen. Es holt nur hervor, was eigentlich schon da ist.

Ist Ghosting deshalb für manche schlimmer als für andere?

Auch. In der Psychologie spricht man oft von Anlage und Umwelt. Also dem, was man von Geburt an mitbringt wie beispielsweise eine hohe oder niedrigere Sensibilität, und den Erfahrungen, die man in der Welt sammelt. Und wenn ein Mensch schon in seiner Kindheit mit Ablehnung und Verlust umgehen musste und nicht so geborgen aufgewachsen ist, ist er anfälliger für diese negativen Wirkungen des Ghostings.

Und was hilft dagegen?

Zum Beispiel, den Fokus auf die verlässlichen Beziehungen und Freundschaften im eigenen Leben zu richten: Okay, dieser eine Mensch hat mich geghostet, aber wie viele Menschen in meinem Leben haben das nicht gemacht? Ghosting bedeutet Kontrollverlust. Deshalb ist es sehr wichtig, sich auf das zu konzentrieren, was man tatsächlich selbst in der Hand hat. Der Umgang mit den eigenen Gefühlen ist sehr wertvoll. Man kann zum Beispiel mit Tagebuchschreiben, Atemübungen oder Bewegung tatsächlich seine Gefühle auch regulieren und hat nicht das Gefühl, sie fliegen einem nur um die Ohren.

Apropos Kontrolle: Ist es eine gute Idee, die andere Person noch mal zu kontaktieren?

Ich gehe immer erst einmal davon aus, dass mein Gegenüber eigentlich am besten weiss, was gut für es ist. Und wenn da noch ein starker Wunsch ist, noch mal eine abschliessende Nachricht zu schicken, in der man alles sagt oder um ein Gespräch bittet, dann würde ich auch nicht davon abraten – ausser es gab schon 20 Nachrichten zuvor. Es sollte einem selbst aber nicht schaden und es kann auch sein, dass nichts dabei rumkommt. Dann sollte man den Fokus wieder auf sich selbst lenken.

Was, wenn das einfach nicht gelingen will? Wie kann man mit dem ewigen Grübeln aufhören?

Ich empfehle gerne zwei Übungen. Erstens stellen Sie sich vor, Ihr Verstand wäre ein Spürhund. Dieser Spürhund hört auf das, was Sie sagen. Wenn Sie ihm zum Beispiel die Frage stellen "Warum hat der andere mich geghostet?", dann läuft und läuft er und sucht nach Antworten. Und das teilweise viele, viele Jahre. Dann stellt man sich vor, wie man diesen Hund zurückruft. Bedanken Sie sich für all die Arbeit, die er geleistet hat, seine Ausdauer und seine Loyalität – und gönnen Sie ihm seine wohlverdiente Pause. Er darf sich hinlegen und ausruhen.

Aber was, wenn der Hund besonders aktiv ist?

Dann kann man den Hund wieder losschicken, nur mit einer anderen Aufgabe, wie: "Such das, was mich in meinem Leben glücklich macht und erfüllt" oder etwas kleiner: "Such, was mir jetzt gerade gut tun würde". Ghosting fühlt sich an wie der totale Kontrollverlust. Das Schöne an der Übung: Viele fühlen sich zuvor, als sei ihr eigenes Denken völlig ausser Kontrolle geraten. Die Gedanken kreisen teilweise ununterbrochen. In dem Moment, in dem einem klar wird, dass man den Spürhund aber selbst losgeschickt hat und auch zurückrufen kann, erlangt man diese Kontrolle wieder zurück.

Sie hatten noch eine zweite Übung erwähnt.

Die "Übung mit dem Buch". Sie stammt von einer Coachin aus den USA. Ich leite sie bei meinen Klienten so an: "Stellen Sie sich vor, Sie lesen ein Buch, in dem die Geschichte von Ihnen und der anderen Person steht. Sie lesen und blättern darin, es fühlt sich gut am beim Lesen und Sie sind neugierig, wie es weitergeht. Doch dann blättern Sie um und – bäm! Plötzlich ist die Seite leer. Sie sind total irritiert. Wie kann es sein, dass die Geschichte einfach so abbricht? Jetzt können Sie sich entscheiden: Möchte ich zwei Jahre vor diesem Buch sitzen bleiben und überlegen, wieso diese Geschichte so abrupt geendet ist und die Seite leer bleibt? Oder kann ich das Buch erst mal zumachen, ins Regal stellen und mich dann umschauen: Okay, was ist eigentlich gerade in meinem Leben? Wie kann ich mich hier sortieren und weitergehen?"

Was macht diese Übung so gut?

Diese Übung empfinden viele als hilfreich, weil man das metaphorische Buch, wenn man möchte, auch wieder aus dem Regal holen und sich an die guten Zeiten erinnern kann – oder die Geschichte vielleicht eines Tages selbst fortschreiben kann. Nicht mit der anderen Person, sondern für sich selbst. Vielleicht, so schreibt besagte Coachin, erkennt man sogar eines Tages einen Sinn für sich, warum dieses Ghosting im eigenen Leben passiert ist.

Sie haben die "Ghosting-Ambulanz" auch nach einer persönlichen Erfahrung gegründet. Haben Sie inzwischen diesen Punkt für sich erreicht?

Ich selbst habe die Erfahrung, geghostet zu werden, in etwas Gutes umgewandelt. Ich habe das Thema als Angebot aufgenommen. Und inzwischen kriege ich tatsächlich sehr schöne Rückmeldungen, dass die Zusammenarbeit Menschen geholfen hat und sie jetzt wieder nach vorne sehen. Und das ist für mich das Sinnhafte in dieser ganzen Geschichte. Ich sage aber nicht, dass es für jeden Menschen diesen grossen Sinn dahinter geben muss. Für manche ist es einfach scheisse und es geht darum, trotzdem gut weiterzuleben.

Aus Ihrer persönlichen Erfahrung, woran merkt man, dass man das Ghosting verarbeitet hat? Und wie lange dauert das?

Wie lange es dauert, ist immer unterschiedlich. Man merkt es zum Beispiel daran, dass man immer weniger an die andere Person oder das Warum denkt und einem auch wieder andere attraktive Menschen auffallen. Dass man nicht mehr das Gefühl hat, man möchte dem anderen am liebsten die Leviten lesen, wenn man ihm zufällig noch mal über den Weg läuft, ist auch ein ganz gutes Zeichen.

Sondern es stellt sich ein ruhigeres, friedlicheres Gefühl ein und irgendwann auch ein gewisses "Ist mir jetzt eigentlich auch egal". Man wacht eines Morgens auf und stellt nach ein paar Stunden fest: "Oh, heute noch überhaupt nicht an die andere Person gedacht." Das sind immer gute Zeichen.

Über die Gesprächspartnerin

  • Anja Wermann ist Diplom-Psychologin. In ihrer "Ghosting-Ambulanz" in Berlin-Kreuzberg spricht sie mit Betroffenen über die Ursachen von Ghosting und wie man am besten damit umgehen kann.