Die zweite Pandemie-Welle rollt durch Europa, die Politik quält sich mit neuen Kontaktverboten. Mitten in die Debatte meldet das Mainzer Unternehmen Biontech einen Durchbruch. Der neu entwickelte Coronavirus-Impfstoff BNT162b2 funktioniere "sehr gut". 28.000 Probanden hätten bereits die zweite Dosis erhalten. Nun könnte es bald zu Massenimpfungen kommen.
Die Welt wartet fieberhaft auf einen Corona-Impfstoff. Aus Rheinhessen könnte nun die Erlösung kommen. Das Mainzer Pharmaunternehmen Biontech meldet einen Durchbruch. Der neu entwickelte Impfstoff BNT162b2 sei in den klinischen Studien so erfolgreich, dass man einerseits mit der Massenproduktion begonnen und andererseits den finalen Genehmigungsprozess beantragt habe. Man sei kurz davor, "dieser Pandemie ein Ende zu bereiten".
28.000 Probanden hätten bereits zweite Impfdosis erhalten
Die europäische Pharmaaufsicht EMA in Amsterdam bestätigt, dass der Wirkstoff im sogenannten "Rolling-Review-Verfahren" jetzt geprüft werde. Bei diesem Verfahren werden Daten aus der klinischen Prüfung fortlaufend eingereicht und bewertet. Die Entscheidung der EMA, dieses Schnell-Verfahren zu starten, basiert nach Angaben der Behörde auf den ermutigenden Daten der klinischen Studien bei den bisher geimpften Erwachsenen.
Im April hatte Biontech als erstes deutsches Unternehmen vom Paul-Ehrlich-Institut die Genehmigung für klinische Studien erhalten. Inzwischen hätten die Mainzer bereits 37.000 Teilnehmer in die Studien eingeschlossen, 28.000 Menschen hätten bereits die zweite Impfstoff-Dosis erhalten. Mehr als 120 Studienzentren weltweit seien beteiligt, unter anderem in den USA, Brasilien, Südafrika und Argentinien.
Wie Biontech-Chef und Mitgründer Ugur Sahin betont, gehen wir "langsam auf die Zielgerade zu". In einem Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verrät Sahin, dass man "mit zwanzig Kandidaten" in die Forschung gestartet sei, "vier haben wir klinisch erprobt". Und BNT162b2 sei "sehr aussichtsreich". Der Impfstoff besitze "ein exzellentes Profil", und Sahin ist davon überzeugt, dass "wir ein sicheres Produkt haben und in der Lage sind, die Effektivität zu demonstrieren".
Biontechs Massenproduktion läuft bereits
Biontech ist so begeistert von seinem Impfstoff, dass man mit der Massenproduktion bereits begonnen habe, die Auslieferung also nur auf die Genehmigung warte: "Für 2020 haben wir bis zu 100 Millionen Dosen geplant," macht Sahin Hoffnung.
Auch Bundesgesundheitsminister
Ob tatsächlich 100 Millionen Impfdosen noch in diesem Jahr verimpft werden, hängt allerdings von den Prüfern der EMA und einer Schnellzulassung ab. "Wir werden jedenfalls unsere Datensätze entsprechend vorlegen – und transparent Wirkung sowie Nebenwirkungen darstellen. Auch werden Impfstoffdosen auf Lager sein, wir produzieren bereits."
Marburg wird wieder zum traditionsreichen Pharmastandort
Tatsächlich hat Biontech im hessischen Marburg kurzerhand die Produktionsstätte des Schweizer Pharmakonzerns Novartis mitsamt 300 hochqualifizierten Mitarbeitern gekauft, um die Massenproduktion rasch hochfahren zu können.
In Marburg könnte also bald eine der grössten Corona-Impfstoff-Produktionsstätten der Welt entstehen. Biontech plant konkret 100 Millionen Impfdosen noch in diesem Jahr, 250 Millionen im ersten Halbjahr 2021. In den nächsten Jahren soll die Produktion auf 750 Millionen Impfdosen pro Jahr gesteigert werden. Dies bedeutet für Marburg zugleich das Comeback eines traditionsreichen Pharmaforschungsstandortes, denn mit Constantin Zwenger (1814–1884) wurde just hier die pharmazeutische Chemie begründet.
Marburg stellte mit Emil Adolf Behring (1864-1917) den ersten Nobelpreisträger für Medizin und Begründer der passiven Schutzimpfung. Die Marburger Universität ist bis heute in Chemie und Biologie ein weltweiter Forschungsführer, zahlreiche Leibniz-Preise legen Zeugnis davon ab.
Sollte sich der Mainz-Marburger Impfstoff tatsächlich durchsetzen, wäre das auch für viele tausend Aktionäre von Biontech eine gute Nachricht. Der Aktienkurs ist bereits auf 75 Euro geklettert und hat sich seit März bereits verdreifacht. Die Marktkapitalisierung des jungen Unternehmens hat die Marke von 20 Milliarden Dollar überschritten - Biontech ist damit drei- bis viermal so viel wert wie die Deutsche Lufthansa oder die Commerzbank.
Firmengründer schon unter den 100 reichsten Deutschen
Das wiederum dürfte auch das Mediziner-Ehepaar Ugur Sahin und Özlem Türeci freuen. Denn die beiden sind nicht nur aussergewöhnlich erfolgreiche Forscher der Medizin, jetzt sind sie auch Milliardäre. Die beiden Firmengründer von Biontech halten bis heute 18 Prozent des Aktienkapitals. Mit dem spektakulären Erfolg ihres Unternehmens sind sie schlagartig unter die 100 reichsten Deutschen aufgestiegen.
Deutschland bekommt mit dem Paar ganz nebenbei ein leuchtendes Vorbild für gelungene Integration. Sahins Familie kam aus der Türkei nach Köln, als er vier Jahre alt war. Der Vater arbeitete als Gastarbeiter bei Ford. Sahin studierte zunächst Medizin in Köln, später arbeitete er als Arzt am Klinikum der Kölner Universität. Seine Doktorarbeit schrieb er über Immuntherapie bei Tumorzellen. Seitdem liegt sein Schwerpunkt auf der Krebsforschung und der Immunologie. Seit 2006 ist Sahin Professor für experimentelle Onkologie an der Mainzer Uniklinik.
Auch seine Ehefrau Özlem Türeci hat türkische Wurzeln: Ihr Vater kam als Arzt aus Istanbul nach Deutschland, um in einem kleinen katholischen Krankenhaus im Landkreis Cloppenburg zu arbeiten. Türeci studierte Medizin im Saarland und lernte dort auf der Krebsstation des Klinikums in Homburg an der Saar ihren Mann kennen. Beide waren fasziniert von der Idee, Krebs auf eine neue Art therapieren zu können als nur mit Operationen, Chemotherapien und Bestrahlungen. Sie wollten das Immunsystem dazu bringen, die Krebszellen selbst anzugreifen - und es gelang ihnen.
Gemeinsam gründeten sie im Jahr 2001 Ganymed Pharmaceuticals, das sich auf Antikörperwirkstoffe gegen Tumore konzentrierte. Das Unternehmen konnten sie inzwischen für einen dreistelligen Millionenbetrag verkaufen. Sahin und Türeci gelten international als Pioniere der Krebsimmuntherapie. Und nun könnten sie - weil sie bei Ausbruch der Pandemie rasch ihre Forschung gedreht haben - zu Wissenschaftshelden der Corona-Bekämpfung werden.
Doch ihre Krebspatienten verlieren die beiden nicht aus dem Auge. Sie wollen unbedingt auch ihnen mit dem Impfstoff weiter helfen: "Ich hoffe, dass wir Risikogruppen wie unsere Krebspatienten, die sich teilweise gar nicht mehr auf die Strasse trauen, wieder Kontakt zu Mitmenschen ermöglichen." Ob Milliarden Dollar oder Milliarden Impfdosen - Sahin weist darauf hin: "Hinter den grossen Zahlen stehen viele einzelne Individuen, die davon profitieren können."
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