- Ein Jahr nach dem COVID-19-Ausbruch in Norditalien berichtet der Arzt Stefano Fagiuoli vom Leben mit dem Virus.
- Fagiuoli arbeitet im Krankenhaus Papa Giovanni XXIII in Bergamo, das im Auge des Sturms lag und so traurige Berühmtheit erlangte.
- Als Mitglied des COVID-Krisenstabs weiss er, wie die Mitarbeiter die Katastrophe durchgestanden haben und wie sie nun nach vorne blicken.
Herr Fagiuoli, Ihr Krankenhaus wurde vor rund einem Jahr weltberühmt, weil es sich im Zentrum des Corona-Ausbruchs in Norditalien befand. Als eine der grössten und modernsten Einrichtungen der Gegend nahm es besonders viele COVID-Patienten auf. Erinnern Sie sich an den Moment, in dem Sie merkten, dass sich vor Ihren Augen eine Katastrophe entfaltet?
Stefano Fagiuoli: Schon im Januar haben wir erste Anzeichen dafür gesehen, dass da etwas wirklich Gefährliches aus Asien auf uns zukommt. Ich habe mir neulich die Nachrichten durchgelesen, die ich mir damals mit einem Kollegen geschrieben habe. Ich habe von meinen Sorgen erzählt und er hat mir unverblümt geantwortet, dass er sich vor Angst fast in die Hose macht. Aber ich habe natürlich nicht erwartet, dass es ausgerechnet unser Krankenhaus so stark treffen wird. Wir dachten damals noch, dass wir besonders vorsichtig seien und gut vorbereitet wären.
Wann haben Sie gemerkt, dass die Situation nur sehr schwer zu kontrollieren sein wird?
Im Krankenhaus ging es am Freitag, 21. Februar los. Damals erfuhren wir von der ersten Corona-Diagnose in Europa, und zwar in der Lombardei. Am folgenden Tag, dem 22. Februar, haben wir die erste Krisensitzung abgehalten und 24 Betten im Krankenhaus für Corona-Patienten abgestellt. Aber schon am Montag reichten diese Kapazitäten nicht mehr aus. Wir mussten immer mehr Platz schaffen. Ende März behandelten wir dann mehr als 500 COVID-Patienten gleichzeitig.
Wie haben Sie sich in diesen Wochen gefühlt?
Für uns war das eine wirklich schwierige Situation, vor allem psychologisch. Denn die meisten von uns haben nicht in ihrem Spezialgebiet gearbeitet und mussten erst lernen, wie man die Patienten am besten beatmet und wie die experimentellen Behandlungsmethoden funktionieren. Anfangs haben wir uns deshalb teils unzulänglich gefühlt, bis wir verstanden haben, dass unsere Unterstützung besser war, als gar keine zu haben. Also haben wir so viel gearbeitet, wie wir konnten.
"Normalerweise verliert man einen Patienten pro Monat. Plötzlich sind es 20 Tote am Tag."
Teils kamen bis zu 100 neue Patienten am Tag in der Notaufnahme an. Wie sind Sie damit umgegangen?
Die Anzahl der Patienten, die schon im Sterben lagen, als sie im Krankenhaus ankamen, war überwältigend. Es war klar, dass wir bei vielen von ihnen keine Möglichkeit hatten, sie wieder in einen normalen Zustand zurückzuholen. Einige sind innerhalb von zwei oder drei Tagen nach ihrer Aufnahme gestorben. Das war sehr schlimm auch für uns Ärzte. Normalerweise verliert man einen Patienten pro Monat und erinnert sich an seinen Namen. Doch plötzlich sind es zwölf, 15, 20 Tote am Tag. Das war sehr, sehr schwierig für uns und auch für das Pflegepersonal und darum haben wir umgehend eine Stelle für psychologische Unterstützung eingerichtet. Auch die Familien der Opfer brauchten diese Unterstützung, denn sie konnten sich in den meisten Fällen nicht mal von ihren Liebsten verabschieden, weil sie nicht ins Krankenhaus durften.
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Ein grosses Problem war damals auch, dass man in Europa so wenig über den Krankheitsverlauf wusste.
Ja, daher haben wir dauernd die neuesten Studien gelesen, uns ausgetauscht und Webkonferenzen mit Kollegen in der ganzen Welt abgehalten. Wir waren immer auf der Suche nach der besten Kombination der Behandlungsmöglichkeiten. Es gab ja kein Protokoll für diese Situation. Aber ich glaube, dass das grösste Problem die unfassbar hohe Anzahl der Patienten war. Es gab damals so viele Menschen, die sehr schwer erkrankt waren, dass es sogar schwierig war, sie alle ins Krankenhaus zu bringen. Manche mussten Tage warten, bevor sie aufgenommen wurden. Das grosse Risiko bestand dann darin, dass sie zu lange unbehandelt zu Hause blieben oder Komplikationen auftraten, die sich später als unheilbar erwiesen.
Nach der ersten Welle gab es entsprechend viel Kritik am Gesundheitssystem. Der Vorwurf lautete, der Fokus habe zu stark auf spezialisierten Krankenhäusern gelegen und die Versorgung der breiten Masse etwa durch Hausärzte sei vernachlässigt worden.
Ich glaube, dass es unmöglich war, sich auf den Ausbruch einer solchen Pandemie angemessen vorzubereiten. Das ist keine Kritik, das ist leider eine Tatsache. In der zweiten Welle ist es uns gelungen, die Situation besser unter Kontrolle zu behalten, aber das lag nicht an Verbesserungen im Gesundheitssystem, sondern daran, dass es viel weniger Infizierte gab. Kamen im März vergangenen Jahres noch 80, 90 Menschen mit COVID-Symptomen täglich in unsere Notaufnahme, waren es in der zweiten Welle nicht mehr als 15. Ich denke, dass die Lösung für die Bewältigung einer solchen Pandemie nicht in den Krankenhäusern, sondern im Benehmen der Bevölkerung liegt. Die Isolierung von positiven Patienten und die Nachverfolgung der Ansteckungsketten sind die einzigen Waffen, die wirklich helfen.
Hat die italienische Bevölkerung diese Waffen gut genutzt?
Ich glaube, dass sich die Menschen so gut benommen haben, wie man es sich nur hätte wünschen können. Doch das geht jetzt schon seit einem Jahr so und die Situation ist für alle schwierig. Für einige Menschen ist es aber besonders schwierig, für die Jugendlichen etwa, oder für Menschen, die kein geregeltes Einkommen haben. Für mich selbst war es, obwohl ich grosse Angst vor dem Virus hatte und mich schliesslich sogar mit ihm angesteckt habe, vergleichsweise einfacher, mich an die Regeln zu halten. Einerseits weil ich das Virus aus der Nähe kannte und wusste, wovor wir uns schützen müssen und andererseits, weil meine Familie und ich finanziell abgesichert sind.
Aktuell steigen die Infektionszahlen in Italien wieder an. Glauben Sie, dass die Regierung die richtigen Entscheidungen trifft, um die Ausbreitung des Virus zu bekämpfen?
Ich weiss nicht, ob die Regierung sich jetzt für einen härteren Lockdown entscheiden wird, um die Ausbreitung zu stoppen. Und ich finde, dass wir Fachexperten davon Abstand nehmen sollten, den Umgang der Politiker mit der Pandemie zu beurteilen. Denn für mich ist es viel zu einfach zu sagen, dass die beste Waffe gegen Infektionen dieser Art die komplette Isolierung ist. Aber es gibt auch soziale Gleichgewichte, die aus wirtschaftlicher Sicht aufrechterhalten werden müssen. Kurzum, ich beneide diejenigen nicht, die diese Abwägungen treffen und Entscheidungen fällen müssen.
"Es wird noch dauern, bis wir zu unserem normalen Leben zurückkehren können"
Sind Sie zuversichtlich, dass wir die Pandemie mit den Impfungen unter Kontrolle bekommen werden?
Ja, das glaube ich. Ich selbst bin auch schon geimpft. Doch leider wird es noch etwas dauern, bis ein relevanter Anteil der Bevölkerung geimpft ist und wir zu unserem normalen Leben zurückkehren können. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass die anderen Krankheiten nicht einfach aufgehört haben, zu existieren. Es ist nicht möglich, dass das gesamte medizinische Personal seine reguläre Arbeit liegen lässt und sich plötzlich nur noch der Impfkampagne widmet.
Glauben Sie, dass es Bergamo gelingen wird, sich von der Katastrophe zu erholen, die die Stadt erlebt hat?
Davon bin ich überzeugt. Der Tatendrang der Menschen hier, ihre Motivation im Alltag und im Beruf ist die ganze Zeit über ungebrochen geblieben. Das sehe ich jeden Tag im Krankenhaus. Das Personal hat die Arbeit, die im März und April liegengeblieben ist, wieder aufgeholt und arbeitet bis heute mit grosser Hingabe. Sobald wir grünes Licht bekommen, werden die Einwohner dieser Region das Gleiche tun und zu dem sozial und wirtschaftlich prosperierenden Leben zurückkehren, das sie vorher geführt haben.
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