Party statt Isolation: In letzter Zeit häufen sich Schlagzeilen über Situationen, in denen Menschen die Bekämpfung der Pandemie offenbar nicht mehr ernst nehmen. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt der Psychiater Jan Kalbitzer, wie sich unsere Wahrnehmung einer Ausnahmesituation verändert, wenn sie lange Zeit andauert und welche Faktoren zu einer Überdrüssigkeit beitragen.
Herr Kalbitzer, immer mehr Menschen scheinen der Pandemie-Bekämpfung überdrüssig zu sein. Können Menschen einen Zustand der Alarmiertheit überhaupt über so viele Monate aufrechterhalten?
Jan Kalbitzer: Wenn wir Dinge, die uns Angst machen, nicht verdrängen würden, würden wir gar nicht überleben. Wenn man ständig darüber nachdenken würde, dass man auf einem Planeten durch ein Universum rauscht und nicht genau weiss, welchen Sinn das Ganze hat, dann würden die meisten wahrscheinlich verrückt werden.
Das ist eigentlich ein nützlicher Mechanismus. Er fällt uns jetzt aber ein bisschen auf die Füsse, weil wir hierzulande bisher sehr gut durch die COVID-19-Krise gekommen sind und die Gefahr abstrakt bleibt. Und es gibt einfach sehr viele Menschen, die lange Einschränkungen in Kauf genommen haben, die jetzt wahnsinnig erschöpft davon sind.
Gleichzeitig fällt es Menschen schwer, Gewohnheiten zu ändern.
Sie sehen also Zwang als ein zielführendes Mittel an?
Die Regeln nicht konsequent durchzusetzen, ist problematisch. Durch diejenigen, die sich nicht daran halten, entsteht das Bild, man müsse die Massnahmen gar nicht befolgen.
Es ist aber wichtig, dass der Streit darüber, ob, wann oder wo eine Maske zu tragen ist, nicht auf der Strasse zwischen einzelnen Bürgern stattfindet. Das führt eher zu einer weiteren Polarisierung. Es muss über die Instrumente des Staates durchgesetzt werden.
Dass Menschen etwa bei der Kontaktverfolgung unleserliche Daten angeben, zeugt auch davon, dass fehlendes Vertrauen eine Rolle spielt.
Es ist problematisch, dass die Informationen teilweise widersprüchlich sind und dass der Eindruck entsteht, dass nicht alles stimmt, was gesagt wird. Es wird vor grossen Demonstrationen gewarnt, sie finden trotzdem statt und die befürchtete Zunahme an Infektionen bleibt aus.
Wenn man keine gute Begründung dafür hat, warum die befürchteten Folgen nicht eintreten, wenn Menschen im Freien ohne Maske demonstrieren, dann haben diejenigen, die Regeln durchsetzen wollen, ein Problem. Deswegen ist es aus meiner Sicht wichtig, nur wenige, einfache Regeln aufzustellen, die den Tatsachen wirklich entsprechen und deren Einhaltung durchzusetzen.
Gleichzeitig ist es wichtig, anzuerkennen, dass bisher nicht nur die Strengen Recht hatten. Während des Lockdowns gab es Menschen - zu denen auch ich gehörte - die am liebsten sehr strenge Massnahmen sehr lange aufrechterhalten hätten. Aber wir haben gemerkt, dass das nicht notwendig war.
Es wurde gelockert und die Infektionszahlen sind nicht in der direkten Folge gestiegen. Wir haben durch die Risikofreudigeren gelernt, dass viele Einschränkungen nicht nötig sind, um die Pandemie im Griff zu haben. Deswegen finde ich es wichtig, anzuerkennen, dass wir die Vielfalt brauchen.
Dazu muss man Andersdenkenden gegenüber aufgeschlossen sein.
Man muss mit Kritikern anders umgehen, weil die grösste Gefahr für unsere Gesellschaft nicht das Virus, sondern die Spaltung ist. Wenn wir die Solidarität verlieren, hätte das weitreichendere Folgen.
Man muss dabei unterscheiden: Es gibt diejenigen, die sich auf pseudowissenschaftliche Quellen beziehen und an Dinge glauben, die nicht real sind. Aber es gibt auch ernstzunehmende Kritik - und mit der muss man sich auseinandersetzen.
Es gab beispielsweise schon zu Anfang der Pandemie Epidemiologen, die gesagt haben, dass Armut auch zu vielen Erkrankungen führt, sowohl zu psychischen als auch zu physischen. Dass es deswegen bei dem Argument, wegen der Ökonomie den Lockdown nicht zu lange aufrechtzuerhalten, nicht nur um Geld geht, sondern eben auch um Gesundheit.
Und solche Wissenschaftler, die vielschichtige Argumente vorgebracht und abgewägt haben, sind zu wenig einbezogen worden.
Die einen ärgern sich über die Massnahmen, die anderen über diejenigen, die sie nicht einhalten wollen: Was macht man mit diesen Emotionen?
Das Wichtigste ist, dass man mit den Menschen kommuniziert, mit denen man auch im Alltag im direkten Kontakt ist. Für deren Motive und Verhalten kann man leichter Verständnis und Mitgefühl entwickeln und so entsteht ein echter Dialog.
Es bringt nichts, sich über Leute aufzuregen, die man nicht kennt, von denen man in der Zeitung oder in den sozialen Medien liest. Ich hatte Nachbarn, die auf den Demos gegen Hygienemassnahmen waren und ich konnte ihre Argumente bezüglich der Gesundheit nicht nachvollziehen, weil vieles pseudowissenschaftlich war.
Aber gleichzeitig konnte ich andere ihrer Motive nachvollziehen: Sie sagten, der Lockdown habe sie in wirtschaftliche Not gebracht und sie seien einfach verzweifelt und mussten irgendwo hin, wo sie das Gefühl rauslassen konnten. So kommt man in einen echten Austausch. Das passiert nur, wenn man sich mit Menschen auseinandersetzt, denen man persönlich begegnet und die anderer Meinung sind als man selbst.
"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.