Tausende machen auf der Strasse ihrer Wut über die Pandemie-Massnahmen der Regierung Luft. Kleine Gruppen von Hooligans greifen gezielt die Polizei an und provozieren bildstarke Strassenschlachten. Mancher fragt: Wem nützt das?
Den zweiten Tag in Folge haben sich militante Demonstranten am Mittwochabend in der serbischen Hauptstadt Belgrad Strassenschlachten mit der Polizei geliefert. Daneben protestierten Tausende Bürger in Belgrad und anderen serbischen Städten friedlich gegen die Corona-Massnahmen des mächtigen Präsidenten Aleksandar Vucic. Die EU-Kommission rief angesichts der Unruhen zur Deeskalation auf. "Die Entwicklungen, die wir seit zwei Tagen verfolgen, bieten Anlass zu Besorgnis", sagte eine Sprecherin am Donnerstag in Brüssel.
Auch in Zeiten der Corona-Pandemie dürften Grundrechte und Freiheiten nicht unverhältnismässig eingeschränkt werden. Gleichzeitig müsse die öffentliche Ordnung aufrechterhalten werden. Der Einsatz von Gewalt müsse aber immer angemessen und verhältnismässig sein, sagte die Kommissionssprecherin weiter.
Die Militanten lösten sich bei den Protesten in Serbien von den friedlichen Demonstranten ab und suchten den Konflikt mit der Polizei, wie die Zeitung "Danas" am Donnerstag berichtete. Die Radikalen, zumeist aus dem Milieu der Fussball-Hooligans stammend, warfen Steine und Feuerwerkskörper auf die Polizisten. Diese trieben die Menge mit Tränengas und Schlagstöcken auseinander. Dabei schlugen die Beamten auch auf friedliche Demonstranten ein. Manche von ihnen lagen bereits am Boden, wie Augenzeugen berichteten.
Journalisten von Polizisten misshandelt
Zwei Journalistinnen und ein Journalist, die sich als Vertreter ihres Berufes auswiesen, wurden von Polizisten misshandelt. Fernsehsender zeigten Live-Bilder von chaotischen Szenen. Der Geruch von Tränengas hielt sich noch für Stunden in den Strassen der Innenstadt. Krankenhausärzte sprachen von Dutzenden Verletzten unter Demonstranten und Polizisten. Am Donnerstagmorgen war die Lage wieder ruhig.
Auslöser der Protestwelle war eine Ankündigung von Präsident Vucic vom Dienstag, wegen der zuletzt stark gestiegenen Zahl von Ansteckungen mit dem Coronavirus eine Ausgangssperre über das gesamte kommende Wochenende zu verhängen. Am Dienstagabend, dem ersten Protesttag, drangen Militante kurzzeitig sogar ins Parlamentsgebäude ein, vor dem Menschen demonstriert hatten. Nach dem ersten Protest am Dienstag zog Vucic seine Ausgangssperren-Ankündigung am Mittwoch wieder zurück. Dennoch gingen die Menschen erneut auf die Strasse.
Ihr Protest richtet gegen die inkonsequente und widersprüchliche Politik Vucics bei der Bekämpfung der Pandemie. Von Mitte März bis Anfang Mai hatte er einen Ausnahmezustand verhängt, der umfassende Ausgangssperren und drakonische Strafen für Verstösse gegen Bewegungsverbote und Quarantäneauflagen einschloss. Die Massnahmen, die viel härter waren als etwa in den Nachbarländern Kroatien und Ungarn, waren unbeliebt. Sie führten aber zu einer signifikanten Eindämmung der Pandemie.
Nach Ende des Ausnahmezustandes wurden alle Einschränkungen gekippt
Ende Mai hob Vucic den Ausnahmezustand auf und setzte die im April geplante und verschobene Parlamentswahl für den 21. Juni an. Seine Regierungspartei SNS gewann sie - unter dem Boykott der meisten Oppositionskräfte - haushoch. Mit dem Ende des Ausnahmezustands fielen praktisch übergangslos alle bisherigen Einschränkungen. Es gab Wahlkampf auf öffentlichen Plätzen, Fussballspiele vor bis zu 20 000 Zuschauern, die Nachtgastronomie durfte wieder öffnen.
Seit etwa zwei Wochen stecken sich in Serbien wieder durchschnittlich 300 Menschen am Tag mit dem Coronavirus an. Besonders die Hauptstadt Belgrad ist betroffen. Am Dienstag hatte Vucic davon gesprochen, dass dort die Krankenhäuser bereits an den Grenzen ihrer Kapazitäten angelangt seien.
Die Regierung beeilte sich, die Proteste als "Putschversuch" und als Ergebnis einer angeblichen Wühlarbeit nicht näher bezeichneter ausländischer Mächte darzustellen. "All dies ist nur als nackte Gewalt zu bezeichnen, die darauf abzielt, die Macht zu übernehmen", erklärte Innenminister Nebojsa Stefanovic in der Nacht zum Donnerstag.
Der Politologe Vuk Velebit wies darauf hin, dass die spektakulären Gewaltakte auf gezielte Provokationen militanter Gruppen zurückgingen. "Ich war selbst die ganze Zeit auf der Strasse, und es schien, als hätten sich diese Gruppen auf Befehl in bestimmten Strassen versammelt und die Zusammenstösse mit der Polizei herausgefordert", sagte er am Donnerstag dem Nachrichtensender N1. Nutzniesser der Krawalle sei die Regierung von Vucic. Die Polizeigewalt gegen Demonstranten und die unschönen Bilder von gewalttätigen Hooligans könnten die Funktion haben, noch mehr Bürger von der Teilnahme an Protesten abzuhalten, fügte Velebit hinzu. (dpa/fra)
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