Deutschland freut sich über weitreichende Lockerungen in der Coronakrise. Dennoch will die neue Freiheit mit Vorsicht genossen werden. Denn ein Blick nach Dänemark zeigt, dass die Menschen nachlässiger werden, je weniger besorgniserregend sie das Virus empfinden. Die Folgen könnten für Deutschland fatal sein.

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Man konnte das kollektive Aufatmen in Deutschland fast schon hören, als Kanzlerin Angela Merkel am Mittwoch Lockerungen der Beschränkungen verkündete. Nach acht Wochen Verzicht auf engere Kontakte, Spielplätze, Gastronomie und vieles mehr endlich Erleichterung. Es scheint, als hätte Deutschland das Coronavirus im Griff. Einen Eindruck, den ausgerechnet Bayerns ansonsten so vorsichtiger Ministerpräsident Markus Söder bestätigte, als er schon am Dienstag im Zuge weitreichender Lockerungen für sein Bundesland verkündete: "Jetzt ist Corona unter Kontrolle."

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Kekulé kritisiert Lockerungen der Bundesregierung

Schnell wurden jedoch auch kritische Stimmen laut. Vor allem der Virologe Alexander Kekulé findet Tempo und Ausmass der Lockerungen problematisch: Die Nachverfolgbarkeit von Infektionen sei "noch nicht so weit wie gewünscht", auch Risikogruppen seien weiterhin nicht hinreichend geschützt, sagte Kekulé am Donnerstag im ZDF-"Morgenmagazin". Durch die nun vereinbarten Lockerungen werde "das Niveau der Sicherungen reduziert". Wie auch bereits der Präsident des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler und Virologe Christian Drosten, rechnet auch Kekulé mit einer zweiten Viruswelle, die das Land spätestens im Herbst treffen könnte. Immerhin bewertet er den von Bund und Ländern vereinbarten Notfallplan, wonach Landkreise oder Städte sich wieder in den Lockdown begeben müssen, wenn es mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner gibt, als "grundsätzlich" positiv.

Dass jedoch nicht nur die Nachverfolgbarkeit von Infektionsketten ein Problem darstellt, zeigt ein Blick nach Dänemark. Eine grosse Gefahr der Lockerungen ist nämlich offenbar, dass sich die Bürger in Sicherheit wiegen und nachlässiger werden, was Sicherheitsabstand und Hygieneregeln angeht.

In einer repräsentativen Studie der Universität Aarhus zeigt sich deutlich, dass die Angst der Bürger vor dem Virus deutlich abgenommen hat. Noch am 11. April waren 26 Prozent der dänischen Bürger sehr besorgt ob möglicher Folgen, die das Coronavirus auf die eigene Familie haben könnte. 44 Prozent waren in einem "gewissen Masse" besorgt und nur 26 Prozent in einem geringen Mass. Am 02. Mai waren nur noch 16 Prozent der Bürger "sehr besorgt" und schon 35 Prozent nur noch in "geringem Masse".

Dänemark hatte bereits am 15. April weitreichende Lockerungen wie Schul- und Kitaöffnungen verkündet.

Viele Dänen halten sich nicht mehr an Empfehlungen

Die schwindende Sorge vor dem Virus scheint in direkter Korrelation mit dem Verhalten der dänischen Bevölkerung zu stehen. Denn auch die Anzahl der Menschen, die ihr Verhalten in der Coronakrise stark verändert haben, sinkt seit einem Hoch Ende März stetig, genauso wie der Anteil der Bevölkerung, der sich an die Verhaltensempfehlungen der Regierung hält. So wuschen sich Ende März noch knapp 80 Prozent mehr als zehnmal täglich die Hände. Am 5. März waren es nur noch um die 60 Prozent. Darüber hinaus wollen die Forscher eine Tendenz erkannt haben, dass die Menschen wieder mehr Menschen ausserhalb ihrer Familien treffen.

Die dänische Regierung verfolgt diese Zahlen mit Besorgnis, denn obwohl die Infektionszahlen des Landes verhältnismässig gering sind, haben Experten laut "Luzerner Zeitung" berechnet, dass der Reproduktionsfaktor wieder leicht gestiegen ist, sich das Virus demnach wieder schneller verbreitet.

Nun warten viele gespannt, wie der weitere Fahrplan Dänemarks aussieht, das laut Regierungschefin Mette Frederiksen am Montag in Phase 2 der Lockerungen eintreten soll.

Deutschland ist in der "Tanz-Phase"

Auch in Deutschland bleibt es spannend, wie sich die Lockerungen auf den weiteren Verlauf der Coronakrise auswirken werden. Schon jetzt müssen zwei Landkreise in Deutschland ihre Einwohner wieder strenger beschränken: Greiz in Ostthüringen und Rosenheim in Oberbayern übertreffen jeweils die Grenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner.

Was aber passiert, wenn die Zahlen deutschlandweit immer weiter ansteigen, weil sich die Menschen immer weniger an die nötigen Hygiene- und Abstandsregeln halten?

Deutschland verfolgt wie viele andere Länder die Taktik, die dem "Hammer and dance"-Ansatz von Tomás Pueyo ähnelt. Deutschland befindet sich gerade in der "Tanz"-Phase, da sich der Reproduktionsfaktor um 1 herumbewegt. Sollte dieser Wert jedoch wieder steigen, muss man davon ausgehen, dass die Bundesregierung wieder mit dem "Hammer" reagiert und die Massnahmen erneut verschärft.

Merkel appelliert an Bürger

Daher verwundert es nicht, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel an die Bürger appelliert, sich auch bei weiteren Corona-Lockerungen an besondere Schutzregeln zu halten. Ohne das "Mitmachen der Menschen" seien alle Massnahmen nicht wirksam, sagte Merkel am Mittwoch. "Jedes Stück Freiheit, was möglich ist, muss unter diesen Bedingungen des Virus verantwortungsbewusst von jedem einzelnen Menschen genutzt werden."

Denn was auch der Kanzlerin bewusst ist: Eine zweite Infektionswelle und ein damit einhergehender Shutdown würde Deutschland noch härter treffen, darin sind sich viele Experten einig. "Denn wenn es Unternehmen nicht mehr gibt und Menschen erst einmal arbeitslos sind, dann ist auch ein Neustart der Wirtschaft nur noch begrenzt möglich", schreibt Marcel Fratzscher, der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in einem Gastbeitrag für "Spiegel.de". Daher gelte es, einen zweiten Shutdown in jedem Fall zu verhindern. Und dazu muss sich die Bevölkerung weiterhin an die Spielregeln halten, die ihr die Coronakrise auferlegt hat.

Verwendete Quellen:

  • dpa
  • afp
  • Danskernes adfærd og holdninger til corona-epidemi Resultater fra HOPE-projektet
  • "Luzernerzeitung.ch": Das Beispiel Dänemark zeigt, was bei der Lockdown-Lockerung schief gehen kann
  • "Welt.de": Diese Landkreise reissen die Lockdown-Linie
  • "Spiegel.de": Wenn der neue Übermut zur Gefahr wird
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