Die Coronakrise fordert wirtschaftlich viele Opfer. Für Schausteller ist die Lage besonders dramatisch. Familienbetriebe in der fünften Generation stehen vor dem Aus, auf finanzielle Unterstützung warten die Schausteller bisher vergeblich. Zwei Betroffene berichten, was die Coronakrise für sie bedeutet.
"Wo Jahrmarkt ist, ist pures Leben." So zitiert der Deutsche Schaustellerbund (DSB) den griechischen Philosophen Pythagoras auf seiner Internetseite. Auf Jahrmärkte und Volksfeste werden die Menschen nun eine lange Zeit verzichten müssen. Corona lässt eben jenes pure Leben nicht mehr zu, und Schausteller geraten in Existenznöte, die sie so vorher noch nie erlebt haben.
Kevin Kratzsch, Vizepräsident des DSB, hat selbst einen kleinen Familienbetrieb, mit dem er in ganz Deutschland Volksfeste, Jahrmärkte und Kirmessen bespielt. 30 Veranstaltungen im Jahr besucht die Familie mit ihrem Schaustellerunternehmen im Jahr. Für 2020 steht bisher kein einziger Termin im Kalender.
Spätestens die Absage des Oktoberfests hat deutlich gemacht, dass die Coronakrise für die Schausteller zu einer wirtschaftlich kaum überwindbaren Situation werden könnte. Bis Ende August sind alle Grossveranstaltungen abgesagt.
Die Schausteller unterliegen faktisch einem Berufsverbot. "Wir haben keine Perspektive. Ich weiss nicht, ob ich meinen Beruf überhaupt noch ausüben kann. Werde ich noch gebraucht? Ich denke ja, aber richtige Antworten gibt es nachvollziehbarerweise nicht - und das macht die Situation besonders schwer", sagt Kratzsch.
"Man denkt sich: Donnerwetter, wie sollst du das überleben"
Familie Hanstein ist bereits in der fünften Generation im Schaustellergewerbe tätig. Familienoberhaupt Otfried Hanstein hat eines seiner Riesenräder nun am Bremerhavener Neuen Hafen aufgestellt, damit er wenigstens ein bisschen Geld verdient. Doch weder das Riesenrad am Hafen noch die 9.000 Euro Soforthilfe können die Schaustellerfamilie retten.
Für den Betrieb fallen jeden Monat Kosten von 30.000 bis 35.000 Euro an. Die Wintermonate sind generell die Zeit, in der die Schausteller in ihre Betriebe investieren und keine Gewinne machen. Es werden Reparaturen durchgeführt, die Geräte werden gewartet und Hallen werden angemietet, um die Fahrgeschäfte unterzustellen. Die letzten Einnahmen von Familie Hanstein stammen von den Weihnachtsmärkten im vergangenen Dezember. Einnahmen in diesem Jahr sind nicht in Sicht.
Otfried Hanstein plagt die Ungewissheit, ob und wann es weitergehen kann: "Selbstverständlich geht es an die Substanz. Wir sitzen zu Hause am Schreibtisch und überlegen, wie es weitergehen soll. Ich schaue auf meinen Kalender und sehe, dass eine nach der anderen Veranstaltung abgesagt wird. Man denkt sich: Donnerwetter, wie sollst du das überleben?"
Jetzt überlegen die Hansteins, wie sie Geld einsparen können. Verkaufen sie ein Auto, oder sogar einen der Lastwagen? Eigentlich können sie auf beide nicht verzichten, aber jede Möglichkeit, sich über Wasser zu halten, wird durchgespielt. Einige Kollegen von Hanstein haben bereits Jobs als Lastwagenfahrer angenommen, um über die Runden zu kommen. Andere verkaufen auf ihren Privatgrundstücken Zuckerwatte und gebrannte Mandeln.
Vereinzelte Fahrgeschäfte und Essensstände in den Städten sind keine Lösung
Für einen Lichtblick sorgt die Stadt München. Dort wird es den "Sommer in der Stadt" geben, bei dem Schausteller vereinzelt ihre Stände und Geschäfte aufbauen dürfen. Auch andere Städte haben sich diesem Modell angeschlossen.
Für Kratzsch ist die Idee ein Tropfen auf den heissen Stein: "Unsere Anlagen funktionieren am besten auf dem Produkt Volksfest." "Diese Ansätze sind schön und gut, und wir freuen uns auch über die Unterstützung und dass wir dazu beitragen können, Leute in die Innenstadt zu ziehen. Aber das allein reicht nicht aus und die Menschen brauchen ab Oktober wieder die Volksfeste. Die Rettung kann nur eine finanzielle Hilfe sein und die Möglichkeit, dass wir zeitnah normal mit unserem Betrieb beginnen können."
Der DSB fordert einen Rettungsschirm in Form von 60 Prozent der Einnahmen aus den Monaten Mai bis Oktober des Jahres 2019. "Die Politik erkennt unsere Lage anscheinend und hat uns auch Hilfe zugesagt. Wie die allerdings aussieht, steht noch aus", sagt Kratzsch.
Otfried Hanstein ist von der Politik enttäuscht: "Über den Rettungsschirm wird jetzt schon seit sechs Wochen gesprochen. Wenn die Schausteller erst pleite sind und Insolvenz anmelden, dann braucht es auch keinen Rettungsschirm mehr. Dann haben sie ein ganzes altes Gewerbe kaputt gemacht."
"Alle Schausteller stehen mit dem Rücken zur Wand", betont Hanstein. Wenn bis Ende des Jahres keine Volksfeste und Jahrmärkte mehr stattfinden, müssen 60 bis 70 Prozent der Schausteller Insolvenz anmelden, prophezeit der 68-Jährige.
Auch Kratzsch ist sich sicher, dass ein Jahr 2020 ohne Berufserlaubnis für Schausteller das Schaustellergewerbe grundlegend verändern wird. Viele der altbekannten Stände wird es dann nicht mehr geben.
Corona ist für die Schausteller schlimmer als der Krieg und die Terrorangst
Noch nie war das Schaustellergewerbe so gefährdet wie in dieser Zeit. Selbst während des Krieges sei seine Familie mit den Fahrgeschäften durch Deutschland gereist, berichtet Hanstein. Kratzsch erinnert sich an eine Corona-ähnliche Stimmung in Deutschland, als in den Jahren 2015 und 2016 Terrorangst herrschte.
Doch gerade da, so Kratzsch, war es gut, die Volksfeste stattfinden zu lassen. Volksfeste sind ein Zeichen des Nicht-Aufgebens, Mutmacher und die Möglichkeit, die Gesellschaft aus der Depression herauszuholen. Sie zeigen in so einer Zeit, dass das Leben lebenswert ist.
Schausteller sind generell Optimisten, meint Hanstein. So lange die Banken noch Kredite vergeben, wird er die Hoffnung nicht verlieren. Auch Kratzsch setzt auf die Charaktereigenschaften seiner Kollegen: "Der typische Schausteller zeichnet sich durch Flexibilität aus, durch Innovation. Er ist pragmatisch, und vor allem ist er sehr stolz." Alle hoffen auf Veranstaltungen im Herbst und das Geschäft der Weihnachtsmärkte.
Kratzsch schöpft während der Coronakrise Kraft aus der Anteilnahme der Menschen. Zu sehen, dass man gebraucht wird, tut gut. Er bekommt täglich 80 Briefe und E-Mails mit Bitten, durchzuhalten. Der Rummel bedeutet den Menschen etwas, erklärt Kratzsch. Es ist ein Ort, der verbindet.
"Ich glaube, man wird uns ganz massiv brauchen. Nicht, weil man die Party niemals stoppen will, sondern weil die Leute unbedingt wieder Ablenkung brauchen." Die Sehnsucht nach purem Leben, wie Pythagoras es nennt, wird nach der Coronakrise gross sein - und dann müssen die Schausteller bereitstehen.
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