Dass Schweden im Verlauf der Corona-Pandemie das soziale Leben nicht in dem Masse herunterfährt wie andere europäische Länder, hat viel Aufmerksamkeit erregt. Der Architekt des schwedischen Weges ist der oberste Epidemiologe des Landes, Anders Tegnell. Wer ist der Mediziner, der trotz scharfer Kritik an seinem Vorgehen festhält?
Anders Tegnell ist das öffentliche Gesicht der schwedischen Strategie zur Corona-Bekämpfung und somit des vielbeachteten Sonderwegs, den das skandinavische Land geht. Der Chef-Epidemiologe im Folkhälsomyndigheten, der schwedischen Behörde für öffentliche Gesundheit, tritt regelmässig vor die Kameras, um die Bevölkerung – stets unaufgeregt und sachlich – über den Verlauf der Coronavirus-Pandemie zu informieren.
Alles andere als unaufgeregt sind jedoch die Reaktionen im In- und Ausland auf die Empfehlungen Tegnells. Mal wird er zum "Nationalidol" erhoben, mal unterstellt man ihm ein "riskantes Experiment" mit Menschenleben. Denn im Gegensatz zum Vorgehen in vielen anderen Ländern setzt Tegnell darauf, die Bevölkerung aufzuklären und sich auf ihr Verantwortungsgefühl zu verlassen, statt viele spezifische Restriktionen aufzustellen und ihre Nichteinhaltung mit Strafen zu ahnden.
Er erhalte auch Morddrohungen, berichtet Tegnell in den Medien. Doch der 64-Jährige zweifelt deshalb nicht an seinem Kurs. Gegenwind auszuhalten, ist er gewohnt.
Prägende Zeit in Afrika
Seit 1985 ist Tegnell Arzt und spezialisiert auf Infektionskrankheiten. Seine gesamte Laufbahn über hat er in unterschiedlichen Einrichtungen an der Bekämpfung von Epidemien gearbeitet. Laut seinem Kollegen Bo Niklasson soll Tegnell ein Projekt ganz besonders geprägt haben.
1995 waren sie gemeinsam im damaligen Zaire, wo eine Ebola-Epidemie zahlreiche Tote forderte. Niklasson zufolge erlebten sie das Leid der Erkrankten in den elenden Bedingungen hautnah. Schon damals fiel der Mediziner mit aussergewöhnlichen Methoden auf.
Das Ärzteteam organisierte 200 Fahrräder, die an einheimische Medizin-Studenten verteilt wurden. Diese fuhren damit in die Dörfer der Region, um die Bewohner über die Krankheit aufzuklären und ihnen Massnahmen beizubringen, mit denen sie sich selbst schützen können. Nach seiner Erfahrung sei es wichtig, Menschen zu überzeugen und zu ermächtigen, erklärte Tegnell mehrfach in Interviews.
Schweinegrippe-Kontroverse
Während ihm heute vorgeworfen wird, zu wenig zu tun, wurde er während der Schweinegrippe im Jahr 2009 dafür kritisiert, es mit den Gegenmassnahmen übertrieben zu haben. Damals empfahl er, sich gegen die Krankheit impfen zu lassen. Fünf Millionen Schweden folgten seinem Rat.
Bei etwa 0,01 Prozent der Geimpften trat als Nebenwirkung eine Narkolepsie, also eine Tagesschläfrigkeit, auf. Tegnell blieb auch im Rückblick bei seinem Standpunkt, dass ein Unterlassen der Impfungen Hunderte Menschenleben gekostet hätte.
Seit 2013 ist er leitender Epidemiologe im Folkhälsomyndigheten – "Staatsepidemiologe", wie die Position in Schweden heisst. Und die Coronakrise hat den Mediziner durch seine unkonventionelle Haltung so deutlich in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt, wie nie zuvor.
Weltweite Aufmerksamkeit in der Coronakrise
Während fast überall sonst auf der Welt persönliche Begegnungen, der Bildungsbetrieb, der Broterwerb und das Kulturleben jäh heruntergebremst wurden, gehen jüngere Kinder in Schweden weiterhin zur Schule; Geschäfte, Fitnessstudios und Restaurants bleiben geöffnet.
Anders als häufig dargestellt, besteht Tegnells Strategie jedoch nicht in einer völlig unkontrollierten Verbreitung des Virus, bis möglichst viele Bürger immunisiert sind. Auch in Schweden sind Massnahmen in Kraft, die den Verlauf des Infektionsgeschehens bremsen sollen.
Schweden verfolge das gleiche Ziel wie andere Länder auch, betont Tegnell immer wieder. Der grosse Unterschied liege darin, wie man Massnahmen gestaltet und vermittelt, sodass die Bevölkerung diese über einen langen Zeitraum mitträgt.
Immer wieder gibt es Schlagzeilen, die den schwedischen Weg für gescheitert erklären. Tegnell hält dagegen, dass sich immer mehr Länder mit Lockerungen ihrer strengen Regeln der schwedischen Strategie annähern. Eine auf belastbaren Daten basierte Einschätzung darüber, ob Tegnells Kurs erfolgreich ist, wird jedoch frühestens im Herbst möglich sein.
Verwendete Quellen:
- European Centre for Disease Prevention and Control: Curriculum Vitae – Anders Tegnell
- Folkhälsomyndigheten: Avdelningen för folkhälsoanalys och datautveckling (FD)
- Information.dk: Sveriges coronahåndtering understreger kun, at der aldrig har været noget 'forbudssverige'
- TV2: Her er manden, der med ’arrogant’ udstråling går imod resten af verden i kampen mod corona
- MåBra: Vem är Anders Tegnell och vad gör en statsepidemiolog?
- Aftonbladet: Anders Tegnell – på väg att bli nationalidol
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