Der Winter ist für Obdachlose besonders hart. Und nun erschwert die Coronakrise die Lage noch zusätzlich. Ausgerechnet die Massnahmen zum Infektionsschutz machen es den Obdachlosen schwer. Wie brisant ist die Lage für die Menschen auf der Strasse? Und wie kann jeder Einzelne helfen?
Zu Hause bleiben – so lautet eine der wichtigsten Empfehlungen in der Coronakrise. Doch was ist mit all denen, die gar kein Zuhause haben?
"Obdachlose Menschen können nicht zu Hause bleiben, um sich vor einer Infektion zu schützen", sagt Stephan Nagel von der Diakonie Hamburg im Gespräch mit unserer Redaktion. "Sie haben sehr häufig eine angegriffene Gesundheit und ernste Vorerkrankungen. Deshalb gehören sie zu den Risikogruppen, bei denen eine COVID-19-Erkrankung einen schweren Verlauf nehmen kann."
Für Obdachlose ergeben sich noch weitere – weniger offensichtliche – Folgen. Da weniger Menschen unterwegs sind, wird es schwer, Spenden zu erhalten oder Obdachlosenzeitungen zu verkaufen. Viele Bahnhofsmissionen erlauben keine längeren Aufenthalte mehr. Und in den Mehrbettzimmern der Obdachlosenunterkünfte ist an Social Distancing nicht zu denken.
Mehr als 50.000 Menschen sind in Deutschland obdachlos. In Österreich dürften es etwa 13.000 sein, die Zahlen beruhen aber allein auf Schätzungen. Für die Schweiz sind halbwegs verlässliche Daten erst gar nicht vorhanden.
Dringender Appell an die Kanzlerin: Obdachlose nicht vergessen
Das zeigt, dass Obdachlose oft vergessen werden. Genau dagegen wendet sich nun ein dringender Appell der BAG Wohnungslosenhilfe an
Darin heisst es: "Die Kanzlerin und die Ministerpräsidenten müssen bei den nun anstehenden Beschlüssen die Lebenslage wohnungsloser Menschen auf ihrer Rechnung haben! Wir benötigen sofort zusätzliche Räumlichkeiten für Beratungen, Tagesaufenthalte, Essensausgaben und Übernachtungsstellen."
Tatsächlich passiert vielerorts das Gegenteil. Denn aufgrund der Corona-Pandemie arbeiten viele Hilfseinrichtungen nur eingeschränkt. Andere schliessen komplett. Gerade im Winter bedeutet das für viele Obdachlose eine Katastrophe.
"Die Regelungen dienen dem Infektionsschutz, der bei Risikogruppen wie Wohnungslosen besonders wichtig ist", sagt Nagel. "Deshalb ist es wichtig, sie einzuhalten."
Obdachlose im Corona-Winter: Kreative Ideen sind gefragt
"Wir machen ganz normal weiter", sagt dagegen Jan Marquardt, Geschäftsführer des "CaFée mit Herz" in Hamburg-St. Pauli auf Nachfrage unserer Redaktion. Obdachlose und sozial Bedürftige erhalten dort Mahlzeiten und ärztliche Versorgung; es gibt eine Kleiderkammer, Dusche, aber auch einen Chor und eine Trommelgruppe.
Die kulturellen Angebote pausieren gerade, doch die Sozialarbeit läuft weiter. "Jetzt in der Corona-Zeit machen wir die Essensausgabe nur am Fenster", sagt Marquardt. "Wir achten auf Abstände und die Leute tragen Masken."
Selbst hat Marquardt keine Angst. "Wenn ich mich schon dem Dienst am Menschen verschrieben habe …", sagt er und lässt das Ende des Satzes offen.
Man spürt, dass Marquardt mit dem Herzen dabei ist. Das allerdings erst seit einem Jahr. Vorher war er Europa-Geschäftsführer einer amerikanischen Firmengruppe. "Aber mit 58 wollte ich der Gesellschaft, die mir das alles ermöglicht hat, etwas zurückgeben", erklärt er.
Einsamer Kampf für Obdachlose im Corona-Winter
Marquardt stehen arbeitsreiche Monate bevor. Das zeigen seine Erfahrungen aus der ersten Pandemie-Welle. "Mitte März waren wir im Bereich der Reeperbahn die einzigen, die geöffnet hatten", sagt er und wird zunehmend emotionaler. "Die kirchlichen Institutionen haben zugemacht. Das mussten wir kompensieren."
Damals stieg der Bedarf an Mahlzeiten von 1.500 auf 2.800 Portionen täglich. "Da waren wir im roten Bereich", sagt Marquardt. "Es muss doch möglich sein, dass man zwei, drei Leute findet, die Bedürftigen helfen. Wo sollen die Menschen sonst hin?"
Hilfe kam in dieser Situation von unerwarteter Stelle. Der Elbschlosskeller, eine der berüchtigtsten Spelunken auf dem Hamburger Kiez, gab Essen aus. "Die haben das für uns abgefedert", sagt Marquardt.
Die Vorbereitungen auf den Corona-Winter laufen
Für den kommenden Winter treffen Stephan Nagel und seine Kollegen von der Diakonie nun Vorkehrungen, um "trotz der Kälte und schlechten Wetters möglichst viele obdachlose Menschen versorgen zu können".
Dabei steht auch eine aussergewöhnliche Massnahme im Raum. "Kurzfristig würde die Anmietung von Hotelzimmern eine deutliche Verbesserung der Situation bringen", erklärt Nagel.
Das Konzept wurde bereits im Sommer für drei Monate erprobt. Dabei fanden rund 170 obdachlose Menschen in Hotels ein vorübergehendes Zuhause. "Vielerorts wurden sehr gute Erfahrungen gemacht", sagt Nagel. "Der Infektionsschutz hat funktioniert. Und die Möglichkeit für die obdachlosen Menschen, in einer geschützten Privatsphäre zur Ruhe zu kommen, hat zu erstaunlichen Stabilisierungsprozessen geführt."
Das Wichtigste sei jedoch, für Wohnungen zu sorgen, betont Nagel. Dazu fordert er mehr Sozialwohnungen und besseren Zugang in den bestehenden Wohnungsbestand.
Jeder Einzelne kann helfen
Und wie kann der Einzelne helfen? Nagels Antwort ist einfach: "Sprechen Sie mit obdachlosen Menschen. Geben Sie einen Obulus, wenn Sie um eine milde Gabe gebeten werden. Oder spenden Sie für Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe."
Und hoffen Sie auf einen milden Winter, möchte man ergänzen.
Verwendete Quellen:
- Interview mit Stephan Nagel, Geschäftsführer der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Wohnungsnotfallhilfen und der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Suchtkrankenhilfe (EAS)
- Interview mit Jan Marquardt, Geschäftsführer des "CaFée mit Herz" in Hamburg
- Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V.: BAG Wohnungslosenhilfe: 860.000 Menschen in 2016 ohne Wohnung
- Pressemitteilung Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V.: Bei den verschärften Corona-Massnahmen wohnungslose Menschen nicht vergessen! (28.10.2020)
- Pressemeldung Diakonie Hamburg: Tag der Wohnungslosen am 11. September – Einzelunterbringungen haben sich bewährt (11.09.2020)
- Sozialbehörde Hamburg: Übersicht zum Betrieb von Einrichtungen der Hamburger Obdach- und Wohnungslosenhilfe
- Bahnhofsmission.de
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