Übersterblichkeit, 7-Tage-Inzidenz, Dispersionsfaktor k: Seit dem Beginn der Corona-Pandemie sind wir alle zu Statistikern geworden. Doch was bedeuten die Kennzahlen und Begriffe genau? Ein Überblick.

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Die USA sind Spitzenreiter, dann folgen Indien und Brasilien - ähnliche Corona-Fallzahlen in Millionenhöhe hat Deutschland nicht, aber wie aussagekräftig sind Ländervergleiche überhaupt? Und warum liefern das Robert-Koch-Institut und die Johns-Hopkins-Universität andere Zahlen? Die wichtigsten Corona-Kennzahlen erklärt unter anderem Prof. Ulrich Mansmann von der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Warum liefern das Robert-Koch-Institut (RKI) und die John-Hopkins-Universität andere Zahlen?

"Sie haben verschiedene Quellen", sagt Prof. Mansmann. Das RKI bekommt seine Daten direkt von den Gesundheitsämtern, die wiederum ihre Zahlen unter anderem von Ärzten, Schulen und Pflegeeinrichtungen aus den jeweiligen Bezirken bekommen. Diese sind verpflichtet, innerhalb von 24 Stunden die Corona-Verdachtsfälle zu melden. Das RKI bündelt dann alle Zahlen.

Die John-Hopkins-Universität (JHU) bezieht Ihre Daten unter anderem von der Homepage der "Berliner Morgenpost". So steht es auf der Homepage zu den Quellenangaben, weiss Prof. Mansmann. "Allerdings hat die 'Berliner Morgenpost' andere Dokumentationsverfahren und macht eigene Korrekturen."

Das RKI schreibt, dass die Zahlen der JHU auf einer kontinuierlichen Internetrecherche basieren (u.a. Medienberichte, Social Media): "Dadurch liegen diese Zahlen zwar schnell vor, lassen aber nur begrenzte Schlüsse auf die Entwicklung zu."

Warum hinken die Ländervergleiche teilweise?

Das Problem ist, dass jüngere Personen unter 70 Jahren ein geringeres Sterberisiko als ältere haben. "Und Ländervergleiche berücksichtigen kaum die Altersstruktur", sagt Prof. Mansmann.

In einem Land wie Indien zum Beispiel liegt das Durchschnittsalter der Bevölkerung bei 28 Jahren. "Es wird zwar viele Infektionen geben, jedoch wirken die sich nicht so dramatisch auf die Sterblichkeit an oder mit Covid-19 aus."

Dies könnte jedoch in einer Gesundheitsstatistik durch die Standardisierung erreicht werden: "Hier vergleicht man zwei Länder miteinander, in dem man die Sterblichkeit der Altersgruppen in Land A auf die der Altersgruppen in Land B bezieht."

Haben die Länder andere Altersstrukturen, führt das dazu, "dass Land A und Land B verschiedene Strategien im Umgang mit Covid-19 entwickeln müssen", sagt Prof. Mansmann.

Was ist die Übersterblichkeit?

Wie schwer eine Pandemie ist, gibt die Übersterblichkeit an. Über sie spricht man, wenn in einem gewissen Zeitraum an einem bestimmten Ort mehr Menschen sterben als es in der Vergangenheit der Fall war. So geschehen in Europa zwischen März und Mai dieses Jahres.

Laut den Zahlen der EU-Statistikbehörde Eurostat gab es in den 24 europäischen Staaten insgesamt 160.000 Todesfälle mehr als im gleichen Zeitraum der Jahre 2016 bis 2019.

Im April in der 14. Kalenderwoche starben Corona bedingt sogar knapp 120.000 Menschen. In den Jahren zuvor waren es in der gleichen Woche "nur" 80.000. Laut dem ZDF starben selbst in der heftigen Grippesaison 2018 "nur" 90.000 Menschen.

Seit August steigen die Zahlen auch in Deutschland wieder. Warum, ist unklar. Das Problem: Das RKI zählt in seiner Statistik "die COVID-19-Todesfälle, bei denen ein laborbestätigter Nachweis von SARS-CoV-2 vorliegt und die in Bezug auf diese Infektion verstorben sind".

Da diese Personen aber oft Vorerkrankungen hatten, "ist es häufig schwierig zu entscheiden, inwieweit die SARS-CoV-2 Infektion direkt zum Tode beigetragen hat".

Sicherheit würde eine Obduktion geben, aber die ist nicht bei jedem durchführbar. Es könnte zudem sein, dass diese gesundheitlich angeschlagenen Patienten wegen der Corona-Massnahmen seltener zum Arzt gegangen sind oder die Hitzewelle Mitte August nicht vertragen haben.

Warum sind die Neuinfektionen im Oktober anders einzuschätzen als die im März?

Mehr Neuinfektionen, mehr Infizierte? So einfach ist das nicht. Zwar gibt es jetzt laut dem RKI zahlenmässig mehr SARS-CoV-2 Infektionen als im Frühjahr, doch stehen Deutschland nun mehr Testkapazitäten zur Verfügung.

So schafft man laut RKI "die Grundlage für eine Unterbrechung von Infektionsketten und für einen Schutz vor Überlastung des Gesundheitssystems".

Andererseits kommt es derzeit trotzdem zu einem Anstieg der Zahlen, da das Infektionsgeschehen generell zunimmt. Zudem gibt es eine hohe Dunkelziffer, denn die täglichen RKI-Daten umfassen nur die positiven Tests, die dem RKI gemeldet wurden.

Daneben gibt es viele Infizierte, die kaum bis gar keine Symptome haben, sich nicht testen lassen und somit nicht als Fälle gelistet werden. Wie viele das sind, weiss keiner.

Das Projekt "Dunkelzifferradar", gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, versucht dem auf der Internetseite covid19.dunkelzifferradar.de nachzugehen. Hier wird für jedes Bundesland aus den RKI-Meldezahlen errechnet, wie viele unerkannte Infektionen es geben könnte. Doch die Zahlen sind nicht offiziell.

Warum liegt die 7-Tage-Inzidenz In Deutschland jetzt bei 50?

Die 7-Tage-Inzidenz zeigt an, wie viele Corona-Fälle in den vergangenen sieben Tagen pro 100.000 Einwohner gemeldet wurden. Die Grenze 50 war damals durch die Leistungsfähigkeit der Gesundheitsämter motiviert.

"Die Nachverfolgung der Fälle ist zeitaufwändig und abhängig von den personellen Ressourcen der Ämter", sagt Prof. Mansmann. Und nur, wenn die Gesundheitsämter bei der Nachverfolgung der Infektionswege leistungsfähig bleiben, kann die Anti-Corona-Strategie effektiv umgesetzt werden.

Ihre Kapazitäten können die Gesundheitsämter erhöhen, wenn sie von der Bundeswehr bei ihrer Arbeit unterstützt werden.

Was ist der Dispersionsfaktor k?

Der Dispersionsfaktor k beschreibt, wie gleichmässig sich eine Infektion in der Bevölkerung ausbreitet. Er hängt also direkt mit dem Verhalten jedes Einzelnen zusammen.

"Treiben die Superspreader die Epidemie voran, hat der Faktor einen geringen Wert (minimal 0) ", sagt Prof. Mansmann. Der Dispersionsfaktor k ist dagegen hoch (nahe der 1), wenn jeder Einzelne einen etwa gleichen Beitrag zur Ausbreitung hat.

"Der Faktor nimmt also ab, je weniger einzelne Personen für die Ausbreitung der Epidemie verantwortlich sind." Er versucht damit zu berechnen, wie viel Einfluss Cluster oder Gruppen auf die Epidemie haben.

"In einer Studie aus Honkong wurde nachgewiesen, dass etwa 80 Prozent der Neuinfektionen mit Clustern zusammenhängen, in denen etwa 40 Prozent der schon Infizierten eng mit den Neuinfektionen verbunden sind", erklärt Prof. Mansmann.

Was bedeutet es, wenn ein PCR-Test falsch-negativ ist?

Bei einem PCR-Test wird ein Rachen-Nasen-Abstrich in einem Labor nach Viren untersucht. Dabei wird das Erbmaterial so stark vervielfältigt, dass es nachgewiesen werden kann, auch wenn es nur in geringen Mengen vorkommt. Solche Tests sind sehr genau. Doch Experten wissen, dass sie in seltenen Fällen daneben liegen können.

Das Problem: Da die Viren sich zu Beginn einer Infektion der Atemwege nur langsam verbreiten, sind manchmal nur einzelne Regionen des Rachens betroffen. Die Chance, sie also zu finden, wird laut dem "Ärzteblatt" weniger. "Falsch-negative Ergebnisse" sind die Folge.

Die John-Hopkins-Universität hat sieben Studien ausgewertet, in denen während verschiedenen Phasen der Infektionen insgesamt 1.330 Abstriche entnommen worden waren.

Der optimale Zeitpunkt für den Nachweis einer Infektion ist demnach Tag 8 nach der Infektion. Dies ist meist auch Tag 3 nach dem Auftreten der Symptome. Auch kann es in Einzelfällen zu falsch-positiven Tests kommen. Dann bekommt ein Nicht-Infizierter die Diagnose, infiziert zu sein.

Über den Experten:
Prof. Ulrich Mansmann ist der Direktor des Instituts für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität.

Verwendete Quellen:

  • Ärzteblatt: "SARS-CoV-2: Frühe Abstriche führen häufig zu falsch negativen Ergebnissen"
  • ZDF: "Übersterblichkeit durch Corona"
Arzt

Mediziner: Immer mehr junge Corona-Patienten auf Intensivstationen

Stefan Kluge, Direktor der Intensivmedizin am Hamburger Universitätskrankenhaus Eppendorf berichtet, es gebe immer mehr junge Corona-Patienten auf der Intensivstation.
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