Die Zahl der positiv getesteten Personen steigt, trotzdem bleibt die Zahl der COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen konstant. Hat sich das Virus abgeschwächt? Ulf Dittmer, Virologe und Professor an der Uniklinik Essen, erklärt, welche Faktoren eine Rolle spielen.
Zurzeit wird diskutiert, ob sich das Coronavirus durch Mutation abschwächen kann. Wie schätzen Sie das ein?
Ulf Dittmer: Fakt ist, dass RNA-Viren - und dazu gehört das Coronavirus SARS-CoV-2 - sich immer verändern. RNA ist genetisch relativ unstabil und verändert sich schnell. Das ist sozusagen Evolution in Echtzeit.
Einige wenige Publikationen beschreiben, dass ein verändertes Virus in einzelnen lokalen Ausbrüchen weniger pathogen gewesen ist. Dort hat es weniger Erkrankungen verursacht und war nicht tödlich. Das sind aber sehr lokale Ereignisse.
Um das jetzt in der Welt vorherrschende Virus zu verdrängen, müsste das neue, schwächere Virus sich stärker ausbreiten. Wie lange das dauern würde, kann niemand sagen.
Könnten die steigenden Fallzahlen im Vergleich zur momentan niedrigen Sterberate durch COVID-19 in Deutschland Hinweis auf eine Mutation des Virus sein?
Zum Glück sehen wir diese Entwicklung in vielen Ländern. Allerdings spielen dabei so viele Faktoren eine Rolle, dass wir nicht sagen können, was die exakte Ursache ist.
Zum Beispiel sind in Deutschland, Österreich und der Schweiz zurzeit vor allem jüngere Menschen infiziert. Der Altersdurchschnitt hat sich stark nach unten verschoben. Diese Gruppe erkrankt weniger schwer und kommt seltener ins Krankenhaus.
Zudem testen wir mittlerweile mehr. Das heisst, wir testen auch Personen positiv, die nicht schwer oder gar nicht erkrankt sind. Das verschiebt die Zahl der positiv Getesteten gegenüber den schwer Erkrankten.
Inzwischen haben wir zudem eine spezifische Therapie gegen das Virus. Es gibt also viele Parameter, die sich im Vergleich zum Frühling 2020 verändert haben. Deswegen kann man nicht sagen: Das liegt an einem veränderten Virus. Das könnte zu der derzeitigen Situation beitragen, aber wir wissen es nicht.
Wie sieht aktuell die spezifische Therapie gegen COVID-19 aus?
Mit Remdesivir haben wir ein Medikament, das wir in Deutschland und anderen Ländern mittlerweile sehr frühzeitig einsetzen. Dann hilft es sehr gut und führt dazu, dass weniger Menschen schwer erkranken.
Was ist mit Blutverdünnern?
Alle klinischen COVID-19-Patienten mit Anzeichen auf eine Gerinnungsstörung werden überwacht und bei Bedarf mit Blutverdünnern behandelt. So können im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 auftretende Gefässverschlüsse wie Schlaganfall, Herzinfarkt oder Embolien verhindert werden.
Was noch?
Es gibt Hinweise, dass im späten Krankheitsverlauf bei Patienten mit einer Lungenentzündung Schädigungen der Lunge auftreten, die durch ein überaktives Immunsystem ausgelöst werden.
Deshalb werden jetzt Medikamente eingesetzt, die später in der Infektion das Immunsystem unterdrücken. Diese darf man nicht zu früh im Krankheitsverlauf verabreichen, da das Immunsystem im Kampf gegen die Infektion wichtig ist.
Wie sieht es aus mit Blutplasma, das Antikörper enthält? Diese Therapie hat US-Präsident Donald Trump kürzlich sehr gelobt und in den USA wurde sie per Notfallgenehmigung erlaubt.
In Deutschland wird das schon länger gemacht. Wir haben das ziemlich zu Anfang an mehreren Standorten durchgeführt, mittlerweile an 20 bis 25. Es handelt sich um eine sehr effektive Therapie.
Bei schwer Erkrankten, die schon eine lebensbedrohliche Lungenentzündung haben, hat man allerdings nur einen geringen Effekt. Aber bei Patienten, die noch nicht so schwer erkrankt sind, ist das eine hervorragende Therapie.
Wie sieht die neurologische Betreuung von COVID-19-Patienten bei Ihnen an der Uniklinik in Essen aus? Werden sie im Hinblick auf Spätfolgen besonders berücksichtigt?
Wir von der Virologie haben eine sehr enge Zusammenarbeit mit unseren Neurologen. Dabei verfolgen wir die neurologischen Entwicklungen der Patienten hier in Essen ausgiebig und sehr genau. Das ist wichtig, da es verschiedene neurologische Symptome bei einem Teil der COVID-19-Patienten gibt.
Was führte zum Ende von anderen Pandemien wie der Spanischen Grippe oder SARS-CoV-1?
Das sind Viren, die irgendwann komplett verschwunden sind. Das passiert bei vielen Viren nur, wenn Immunität entstanden ist.
Wenn, wie bei der Spanischen Grippe, genug Menschen gegen das Virus immun sind, weil sie die Infektion überlebt haben, dann kann sich ein Virus nicht weiter ausbreiten. Das würde zum völligen Verschwinden des Virus führen.
Bei SARS-CoV-1 war das anders. Da waren nur einige 1.000 Personen infiziert. Dieses Virus hatte generell Probleme, sich effizient auszubreiten.
Gab es schon Viren, die sich erst ausgebreitet haben und dann durch Mutation schwächer wurden?
Wir haben andere Coronaviren, die jeden Winter wieder auftauchen. Wir wissen nicht, wie diese Viren zu Beginn waren. Aber dass es Viren gibt, die zu Beginn ihres Auftretens sehr aggressiv waren und sich dann langsam abgeschwächt haben, ist wahrscheinlich.
Auch, dass diese dann erhalten geblieben sind, immer wieder auftreten und harmlose Erkrankungen auslösen. Das haben wir aber noch nie von Anfang bis Ende beobachtet. Wahrscheinlich hat das vor Jahrhunderten schon bei anderen Viren stattgefunden.
Wie müsste sich das Virus SARS-CoV-2 verändern, damit es zu leichteren Erkrankungen führen würde? Oder könnte es umgekehrt durch Mutation auch aggressiver werden?
Der evolutionäre Zielpunkt für das Virus ist, sich möglichst stark zu vermehren. Das kann es bei SARS-CoV-2 wahrscheinlich, wenn es weniger tief in der Lunge, sondern mehr im oberen Nasen-Rachen-Trakt vorkommt. Das würde damit einhergehen, dass man nicht so schwere Infektionen sieht.
Man kann aber auch nicht ausschliessen, dass genau das Gegenteil geschieht. Allerdings ist unwahrscheinlich, dass ein aggressives, aber tief in der Lunge sitzendes Virus für eine weltweite Pandemie sorgt. Das hat man bei SARS-CoV-1 gesehen. Das Virus sass bei den meisten Infizierten tief in der Lunge. Dadurch konnte es sich nicht so effizient über Tröpfchen ausbreiten. Wir gehen davon aus, dass im Falle einer evolutionären Veränderung diese eher zu einer Abschwächung von SARS-CoV-2 führt.
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