Während in Deutschland noch über bundesweite Ausgangssperren diskutiert wird, leidet Italien unter dem Coronavirus, dass das Land fest im Griff hat. Besonders in Norditalien ist die Situation dramatisch, wo das Virus sich stark verbreitet hat und Tausende von Menschen daran gestorben sind.
Es sind einzelne Fotos aus dem Norden Italiens, die dieser Tage den Ernst der Lage in der Corona-Krise vermitteln. Denn während in Deutschland noch darüber diskutiert wird, ob bundesweit eine Ausgangssperre verhängt werden soll, zeigt in Italien das Bild einer Kolonne von Militärfahrzeugen, die zum Abtransport der Corona-Toten durch die Stadt Bergamo fahren, welche dramatischen Ausmasse die Krise bereits angenommen hat.
Die lange Reihe der Militärplanwagen schiebt sich nachts durch die ansonsten menschenleere Strasse, das Scheinwerferlicht spiegelt sich im Asphalt. Da das Krematorium der Stadt mit dem Verbrennen der Leichname nicht hinterherkommt, hat das Militär die Opfer des Virus mit der Aktion in umliegende Städte gebracht, um sie dort einäschern zu lassen.
Erst Bilder wie dieses lassen die Fallzahlen, die die Zeitungen tagtäglich veröffentlichen, real werden: Diese Zahlen besagen, dass Italien nicht mehr nur das am stärksten von der Corona-Krise betroffene Land Europas, sondern seit gestern auch das Land mit den meisten Todesopfern weltweit ist. In China, bisher der traurige Spitzenreiter, sind bisher 3.253 Menschen an COVID-19 gestorben. In Italien sind es 3.405 Menschen (Beides Stand Freitag, 20. März, 17:30 Uhr).
"Es treibt einem die Tränen in die Augen"
Die norditalienische Region Lombardei, in der auch Bergamo und die gleichnamige Provinz liegt, ist dabei besonders hart von dem Ausbruch des Virus betroffen. Bis heute beklagt die Region 64 Prozent der Todesopfer des gesamten Landes.
Antonio Ricciardi, Präsident des Centro Funerario Bergamasco, dem grössten Bestattungsunternehmen der Region, sagte der britischen Tageszeitung "The Guardian", dass sein Unternehmen seit dem 1. März fast 600 Bestattungen oder Einäscherungen durchgeführt habe.
"In einem normalen Monat würden wir etwa 120 durchführen", so Ricciardi. "In etwas mehr als zwei Wochen ist eine Generation gestorben. So etwas haben wir noch nie gesehen und es treibt einem die Tränen in die Augen."
Das italienischen Gesundheitsinstitut ISS belegt diese Aussagen mit Daten: Einer Auswertung des ISS zufolge, bei dem die ersten 2.003 Corona-Todesfälle im Land ausgewertet wurden, ist die Generation der über 70-Jährigen besonders gefährdet: Demnach waren 52,4 Prozent der Menschen, die an Corona gestorben sind, über 80 Jahre alt, 35,3 Prozent zwischen 70 und 79 Jahre alt und weitere 8,6 Prozent zwischen 60 und 69 Jahre alt. Die Daten zeigen, dass nur 3,6 Prozent der Menschen, die an dem Virus gestorben sind, 59 Jahre und jünger waren.
Über die Auswertung der Todesopfer hinaus geben die Daten des ISS auch Auskunft darüber, wer sich mit dem Coronavirus infiziert: Demnach stecken sich mehr Männer mit dem Coronavirus an als Frauen (59,6 Prozent der Fälle sind Männer) und das Durchschnittsalter der Infizierten liegt bei 63 Jahren.
Laut dem ISS sind nur 1,1 Prozent der Menschen, die sich mit dem Coronavirus angesteckt haben, unter 18 Jahre alt. Rund ein Fünftel der Kranken ist demnach zwischen 19 und 50 Jahren alt, rund 37 Prozent zwischen 51 und 70 Jahre und ebenso viele über 70 Jahre alt.
Reale Ansteckungszahlen wohl viel höher
Doch vor allem die Daten zu den Corona-Ansteckungen in Italien müssen in diesen Tagen der Krise mit grosser Vorsicht gelesen werden. Denn nicht nur die Bestattungsunternehmer sind mit den Todesopfern der Krise überfordert, das gesamte Gesundheitssystem Norditaliens droht dieser Tage unter der Überlastung zusammenzubrechen.
Die Ärzte der Krankenhäuser berichten seit Wochen von kriegsähnlichen Situationen auf den Intensivstationen, von einem Mangel an Personal und Ausrüstung. Vor allem die bei einer schwer verlaufenden Corona-Erkrankung lebensnotwendigen Beatmungsgeräte sind vielerorts so knapp, dass die Ärzte abwägen müssen, welche Patienten sie erhalten und bei wem es sich etwa wegen des fortgeschrittenen Alters nicht lohnt.
Aufgrund der völligen Überlastung der Krankenhäuser der Region Lombardei müssen vielerorts auch Patienten, die eindeutige Symptome einer Corona-Erkrankung haben, abgewiesen werden. Diese Menschen werden nicht auf das Virus getestet, sondern nach Hause geschickt, wo sie sich isolieren sollen und so lange bleiben müssen, bis sie entweder genesen oder sich bei einer Verschlimmerung der Symptome wieder beim Krankenhaus melden dürfen.
Ganzes Ausmass der Krise in Italien nicht abschätzbar
Unter diesen Bedingungen ist die Annahme, dass alle Corona-Infizierten zuverlässig getestet und von der Regierungsstatistik erfasst werden können, schlichtweg unrealistisch. Experten gehen schon daher schon seit Längerem davon aus, dass die realen Ansteckungszahlen in Italien deutlich höher sind als jede, die das Gesundheitsministerium jeden Tag um 18:00 Uhr der Weltöffentlichkeit präsentiert.
In einem Interview mit der italienischen Tageszeitung Repubblica formulierte der Systembiologe Enrico Bucci, der seit Beginn der Krise die Ansteckungszahle studiert, seine Zweifel: Nicht nur die Zahl der Infizierten in der Lombardei werde wegen der Überlastung der Krankenhäuser stark unterschätzt.
"Wie auch die Bürgermeister in der Region Bergamo anprangern, gibt es zusätzlich eine falsche Einschätzung der Todesfälle. Viele Menschen sterben zu Hause und nicht auf der Intensivstation, ohne einen Test gemacht zu haben, sodass sie nicht als Covid-19-Todesfälle gezählt werden."
Für jeden Todesfall im Krankenhaus könne es zwei geben, die der Kontrolle entgangen sind, so Bucci. Das wahre Ausmass der Corona-Krise in Italien ist also noch lange nicht absehbar.
Verwendete Quellen:
- Täglicher Newsbulletin mit den Daten des italienischen Gesundheitsministeriums.
- Situation Report der Weltgesundheitsorganisation.
- The Guardian: "A generation has died", 19.3.2020.
- Grafik des ISS, Insituto Superiore di Sanità: "Sorveglianza Integrata COVID-19 in Italia".
- La Repubblica: "Bucci: ‘Dalla Lombardia numeri ormai impazziti I contagiati sono di più’", 19.3.2020
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