Gütersloh, Schulen, Sommer: Das waren die beherrschenden Themen in der jüngsten und vorerst letzten Ausgabe des NDR-Podcasts "Coronavirus-Update" mit dem Virologen Christian Drosten. Insbesondere mit Blick auf die Schulöffnungen nach den Sommerferien verabschiedet sich Christian Drosten mit einer eindringlichen Forderung in die Pause.
Was passiert, wenn man viele Ansteckungen innerhalb einer Gruppe an einem Ort in etwa zur gleichen Zeit hat? Die Eingangsfrage von Korinna Hennig kommt nicht von ungefähr, schliesslich ist der Corona-Ausbruch in den Tönnies-Schlachtbetrieben aktuell das beherrschende Thema in Deutschland.
"Für wie beherrschbar halten sie die Ausbreitung in Gütersloh?", fragt Hennig deshalb den Virologen
"Ich denke, dass man spezielle Massnahmen braucht in diesem Ausbruch. Es gibt ja schon ein paar Indikatoren, die darauf schliessen lassen, dass das Virus eben schon in die Bevölkerung hinausgetragen wurde", erklärt Drosten.
Es sei erwartbar, dass es erst einmal zu einer Verzögerung beim Bemerken der Erkrankung komme: "Personen müssen ja erstmal Symptome bekommen und diese Symptome ernst nehmen, dann zum Arzt gehen, dann muss getestet werden, dann muss das gemeldet werden und dann erst weiss man: Es gibt Fälle in der Bevölkerung in einem Mass, das dann vielleicht besorgniserregend ist."
Da schliesst sich die Frage an, wie aussagekräftig die Zahl von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner als Risikoindikator ist, wenn diese Zahl wie bei Tönnies nun so sprunghaft gestiegen ist. Hierzu erklärt Drosten: "Ich denke diese Zahl war eine Einigung. Die Zahl war sicher nicht wissenschaftlich begründet. Sie basierte höchstens auf einer Kapazitätsüberlegung. Ich weiss nicht, woher die Zahl kommt. Das Entscheidende ist, was man jetzt machen muss: Verhindern, dass das Ganze sich weiter ausbreitet über diese Gegend hinaus."
Trotzdem sieht Drosten durch den Fall in Gütersloh und die dort nun höheren Krankenhausaufnahmen kein Überschreiten einer nationalen Behandlungskapazitätengrenze.
Drosten: "Müssen jetzt ganz vorsichtig sein"
Ob die kalten Bedingungen in den Schlachthöfen schon einmal einen Ausblick auf den Herbst und Winter geben könnten, will Hennig wissen - und Drosten sieht hier in der Tat Vorboten. Problematisch seien kalte Bereiche mit wenig Luftzirkulation, wie zum Beispiel Wartebereiche oder Bushaltestellen.
"Das ist natürlich keine gute Vorstellung. Ich glaube aber nicht, dass das am Ende das sein wird, was uns in eine zweite Welle führt, sondern ich denke, wir müssen schon jetzt ganz vorsichtig sein mit der Entwicklung einer zweiten Welle", erklärt Drosten.
"Ich bin nicht optimistisch, dass wir in einem Monat noch so eine friedliche Situation haben wie jetzt, was die Epidemietätigkeit angeht" sagte Drosten. "In zwei Monaten, denke ich, werden wir ein Problem haben, wenn wir nicht jetzt wieder alle Alarmsensoren anschalten." Die Bevölkerung müsse einsehen, dass die Gesundheitsbehörden Unterstützung und Konsens bräuchten.
Appell: Nicht zu früh öffnen
Er macht auch auf die Lage in den südlichen amerikanischen Staaten aufmerksam. Dort gebe es trotz hoher Umgebungstemperaturen volle Intensivstationen: "Dort hat man die erste Welle nicht effizient gebremst, sondern hat zu früh wieder geöffnet. Das ist auf uns übertragbar."
Man habe alles in allem durch das frühe und sehr effiziente Bremsen einen vergleichsweise milden Verlauf in Deutschland gehabt, "aber wir sehen jetzt auch wieder, wie das Virus wiederkommt und nicht nur dort um diesen Ausbruch herum. Wir haben auch in Berlin und an anderen Orten in Deutschland eindeutige Anzeichen dafür, dass das Virus wiederkommt", so Drosten.
In Hinblick auf japanische Studien aus den Frühzeiten der Pandemie, warnt Drosten davor, hier Handlungsanweisungen abzuleiten, denn die aktuelle Situation sei nun eine andere als damals. Stattdessen solle man sich lieber an bekannte, allgemeine Regeln halten: Nicht zu viele Menschen in engen Räumen, keine Enthemmung durch Alkohol oder laute Musik, gegen die man laut anschreit – "alle diese Dinge sind nicht gut."
In Bezug auf die anstehenden Sommerferien und mögliche Reisen fragt Hennig nach der Situation in engen und vollen Flugzeugen. Hier verweist Drosten darauf, dass er kein Techniker sei, aber seines Wissens nach sei die allgemeine Belüftungssituation in Flugzeugen "ganz günstig". Drosten macht sich hier mehr Sorgen um die Wartebereiche vor diesen Flügen, als über den Aufenthalt in der Flugkabine selbst.
Drosten: "Die Wissenschaft hat ein eiskaltes Händchen"
Bleibt noch das Thema Schulen, das dringender ist denn je. Hier erklärt Drosten angesichts der verschiedenen Interessengruppen: "Die Wissenschaft hat ein eiskaltes Händchen." Heisst: Mit der Wissenschaft könne man nicht diskutieren, um ein gewünschtes Ergebnis zu bekommen, denn "die Wissenschaft hat keine Meinung. Die Wissenschaft ist eine Faktenlage."
Man sehe aber in der letzten Zeit Menschen, die mit ihren Äusserungen in sozialen Medien einen Zweck verfolgten: "Das sind Leute, die eindeutig eine Agenda haben und zum Teil konkurrierende Agenden. Es gibt in den sozialen Medien Leute, die wissenschaftliche Inhalte angreifen, ohne Grundausbildung und mit Scheinargumenten, weil sie die Schulen unbedingt geschlossen halten wollen und es gibt genau solche, die andersherum argumentieren mit Scheinargumenten, weil sie die Schulen unbedingt geöffnet haben wollen. Und am Ende ist vielleicht nur die private Situation der Motivationsgeber."
Dementsprechend müsse man jetzt einen gesellschaftlichen Diskurs beginnen, wie man mit der Situation in Schulen umgeht: "Wir wollen ja die Schulen öffnen, wir wollen offene Kitas, denn sonst kann die Gesellschaft nicht funktionieren. Aber wie wollen wir das machen, wenn wir doch wissen: Selbst wenn wir viel testen, man kann ein Virus nicht wegtesten. Das Virus ist ja dann erkannt und dann erfordert das ja eine Konsequenz. Was ist denn, wenn wir plötzlich feststellen, dass die Konsequenz ist, dass wir die Schulen wieder schliessen müssen? Dann ist die Überlegung: Vielleicht können wir keine virusfreien Schulen haben."
Mit diesem Thema müsse man sich dringend auseinandersetzen und auch damit, was das für Schüler, Lehrer und Risikogruppen bedeute.
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