- Sind unter den Corona-Leugnern und den Demonstranten gegen die Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie besonders viele Christen?
- Und wenn ja, wie passt das zusammen?
- Wir analysieren das Phänomen und ordnen ein.
"Unter Christen mehren sich extremistische Corona-Leugner", berichtete "aspekte" im ZDF. "Evangelikale Prediger verbreiten Verschwörungsmythen über das Virus", schreibt der "Spiegel". Der "Querdenker" Samuel Eckert nennt sich selbst einen "Corona-Krieger in Gottes Auftrag" und propagiert, als Christ müsse man "gegen die Lüge aufstehen". Es ist offenkundig: Einige Wortführer der Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen berufen sich auf ihren christlichen Glauben.
Auch das Foto einer Teilnehmerin an der Anti-Corona-Demonstration in Berlin sorgte zuletzt für Furore. Es zeigt eine Frau, die im Angesicht von Polizisten ein Kruzifix in die Höhe hält.
Wie passt es zu christlichen Werten wie Nächstenliebe und Barmherzigkeit, ein tödliches Virus zu leugnen und Massnahmen, die die Mitmenschen schützen, abzulehnen?
Der Hang zu einfachen Lösungen
Wissenschaftliche Erkenntnis und religiöse Überzeugung standen schon oft in einem Spannungsverhältnis. Ein Grundmerkmal evangelikal geprägter Religiosität sei, erklärt der Theologe Martin Fritz, deren Bibeltreue, die "in unterschiedlicher Striktheit" gelebt werde.
Wer die Heilige Schrift der Christen fundamentalistisch beim Wort nimmt, anstatt sie in ihrer historischen Bedingtheit zu interpretieren, gerät schnell in Konflikt mit wissenschaftlichen Erkenntnissen wie der Evolutionstheorie. Hinzu komme, so Fritz, dass es "in jeder Religion einen Hang zu einfachen Antworten" gebe.
Diese Tendenz habe sich möglicherweise verschärft durch die Liberalisierungsbewegung seit den 60er-Jahren. Wer Probleme mit der "Ehe für alle" oder liberaleren Abtreibungsregelungen habe, dem komme Corona als "Ventil" recht. Das Gefühl, ein "wahres Christentum" habe in der Gegenwart "keinen Ort mehr", könne dann zu einer Ablehnung der Gesellschaft als Ganzes anwachsen, argumentiert der Theologe.
Die Beschreibung dieses Vorganges eignet sich in grossen Teilen auch zur Beschreibung dessen, was AfD-Wähler in den Augen politischer und soziologischer Beobachter antreibt. Fritz betont denn auch, es gebe "gewisse Wahlverwandtschaften" zwischen "Bibeltreuen" und den "traditionellen, rechtskonservativen Ordnungsvorstellungen der AfD".
Folgerichtig gibt es in der Rechtspartei schon seit längerem den Kreis "Christen in der AfD". Und der evangelikale AfD-Bundestagsabgeordnete Volker Münz hat mit zwei Mitstreitern das Buch "Rechtes Christentum?" herausgegeben, in dem er versucht, sein Verständnis von Christentum "im Spannungsfeld von nationaler Identität, Populismus und Humanitätsgedanken" zu definieren. Münz plädiere, diagnostiziert Martin Fritz, für eine "christliche-nationale Identität" – geprägt von einer "stark anti-islamischen Note und in deutlicher Nähe zur Identitären Bewegung und zu Pegida".
Die grosse Mehrheit steht zum demokratischen Staat
Drei protestantische Theologen haben das Foto der glühenden Christus-Kämpferin im Medienmagazin "pro" analysiert: Mit dem offensiv vorangetragenen Kruzifix, schreiben sie, würden Assoziationen an einen "Exorzismus zur Befreiung vom Bösen" geweckt, aber auch an die Bereitschaft der mittelalterlichen Kreuzritter zu Mord und Krieg im Namen Christi.
Martin Fritz wie auch Joachim Ochel, Theologischer Referent beim Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und einer der Autoren, betonen im Gespräch mit unserer Redaktion jedoch auch, dass die "überwältigende Mehrheit" der evangelischen Christen entschieden hinter den Corona-Massnahmen und dem Rechtsstaat stehe. Dies gelte auch "für einen grossen ein grosser Teil der evangelischen Freikirchen ".
Auch Martin Fritz warnt eindringlich vor Verallgemeinerungen und vor dramatisierender Berichterstattung: "Da gibt es komische Leute, das stimmt schon", gibt er zu, plädiert aber für Differenzierung: In Interviews und Unterhaltungen habe er erlebt, dass selbst erzkonservative Christen "meistens vernünftige und in den aller seltensten Fällen aggressive Mitbürger" seien.
Die fundamental-christlichen Teilnehmer an den Corona-Demonstrationen sind in den Augen von Ochel und Fritz "ein echtes Randphänomen", eine "verschwindende Grösse", die der Evangelischen Kirche jedoch trotzdem Sorge bereite.
Keine derartigen Sorgen scheint man sich bei der Katholischen Kirche zu machen. Sicherlich seien "auch Katholiken" unter den Anti-Massnahmen-Demonstranten, meint Dr. Karl Jüsten vom Kommissariat der Deutschen Bischöfe. Dass seine Glaubensbrüder aber offensiv und gar mit Kreuzen zu solchen Veranstaltungen gingen, davon habe er "noch nie gehört".
Jüsten ärgert sich über demonstrierende Kruzifix-Träger. Die "politische Zweckentfremdung" des christlichen Symbols empfindet er als "Missbrauch des Kreuzes", der "nicht religiös zu begründen" sei. Doch auch er betont, sogar der grösste Teil der Evangelikalen habe sich doch längst von dieser Bewegung distanziert.
Der Protestant Martin Fritz ist sich sicher, dass einige Rechtskatholiken unter den Demonstranten zu finden sind. Der Unterschied zwischen protestantischem und katholischem Bekenntnis scheine in diesem Zusammenhang von geringer Bedeutung zu sein. Sorgen macht sich der Theologe wegen der insgesamt zunehmenden gesellschaftlichen Breite der Demonstrationsteilnehmer: "Das hätte ich vor einem Jahr nicht für möglich gehalten." Als Aufgabe der Kirchen sieht er, klar zu sagen, dass Vernunft und Verantwortungsbewusstsein unverzichtbare christliche Tugenden seien.
Verwendete Quellen:
- Konstantin von Abendroth, Uwe Heimowski und Joachim Ochel: Querdenker-Demos: Wenn das Kreuz missbraucht wird. In: "pro – Christliches Medienmagazin", 24.11.2020
- Webseite von "Christen im Widerstand"
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