Schweden geht in der Coronakrise einen Sonderweg. Dessen Ziel es offenbar ist, Herdenimmunität zu erreichen. Schwedische Forscher sahen das Land schon auf einem guten Weg dahin. Doch unabhängig voneinander wurden nun zwei Studien wegen schwerwiegender Fehler zurückgezogen.
Es sind gleich zwei Irrtümer inmitten der Coronakrise, die aktuell in Schweden Furore machen. Und womöglich den Sonderweg des Landes relativieren.
"Wir haben Fehler im Bericht festgestellt", erklärte die Schwedische Behörde für öffentliche Gesundheit, die Folkhälsomyndigheten, am Mittwochvormittag auf Twitter. Nur einen Tag zuvor hatte das Amt eine Studie auf einer Pressekonferenz präsentiert, der zufolge sich bis zum 1. Mai ein Drittel der Stockholmer Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert haben sollte.
Grund dafür soll eine unglaublich hohe Dunkelziffer sein: "Für jeden bestätigten Fall gibt es 999 unbestätigte", bemerkte der stellvertretende Staatsepidemiologe Anders Wallensten laut Deutschlandfunk am Dienstag. Doch das stimmt wohl nicht.
Berechnung für Corona-Prognose: "Falsche Variable verwendet"
Bereits während der Pressekonferenz hatte ein Journalist die Zahlen infrage gestellt. Denn derzeit gibt es in Schweden etwa 16.000 bestätigte Corona-Fälle. Das tausendfache dieser Zahl würde die Gesamtbevölkerung des Landes erheblich übertreffen.
Staatsepidemiologe Anders Tegnell – der als Architekt von Schwedens Sonderweg in der Corona-Pandemie gilt – gestand sogleich Fehler ein. Ihm zufolge habe man schlicht "eine falsche Variable verwendet". Diese habe "eine andere Variable erhöht, um den vorgegebenen Richtwert von zweieinhalb Prozent Durchseuchung zu treffen", erklärte Tegnell laut "Tagesschau".
Zwar betonte der 64-Jährige, dass der Fehler nichts an den anderen Fakten ändere, wie den Zeitpunkt für das Erreichen des Spitzenwertes der Ansteckungen. Doch das Folkhälsomyndigheten, für das Tegnell arbeitet, löschte den Bericht von seiner Webseite. "Im Moment gehen die Verfasser das Material erneut durch", erklärte die Behörde auf Twitter.
Proben verwechselt?
Es blieb nicht bei diesem einen Fauxpas. Ein weiterer Irrtum passierte ausgerechnet einer von Europas grössten und angesehensten medizinischen Universitäten: dem Karolinska-Institut.
Forscher des Instituts und der Karolinska-Universitätsklinik zogen am Donnerstag eine auch international viel beachtete Studie zurück. Die Autoren hatten darin behauptet, dass sich schon mindestens 11 Prozent und – unter Einbeziehung eines Korrekturfaktors – eventuell sogar bis zu 30 Prozent aller Schweden mit dem Coronavirus angesteckt hätten und damit immun sein könnten.
Am Donnerstag begründete der klinische Mikrobiologe Jan Albert, einer der an der Studie beteiligten Wissenschaftler, den Rückzug beim schwedischen TV-Sender SVT damit, dass er "nicht überzeugt" von den Ergebnissen sei. Wie die "Tagesschau" berichtet, sei eine Verwechslung von Proben nicht auszuschliessen.
Europa schaut auf Schwedens Sonderweg
Europaweit wird der lockere Weg des skandinavischen Landes mit starkem Interesse verfolgt. Versammlungen mit bis zu 50 Menschen sind weiter erlaubt. Auch die Restaurants sind geöffnet, müssen aber sicherstellen, dass die Gäste zwei Meter Abstand voneinander halten können. Das soziale Leben – zumindest bei den Jungen – floriert weiter.
Die schwedische Regierung gibt der Bevölkerung nur Hinweise, wie sie sich verhalten soll, um eine Verbreitung des Virus zu bremsen. Die Aufforderungen sind aber dieselben wie in anderen Ländern: Bleibt zu Hause, haltet Abstand und wascht die Hände.
"Es gibt keinen vollständigen Lockdown in Schweden. Aber viele Teile der schwedischen Gesellschaft sind eingestellt", bemerkte Aussenministerin Ann Linde in der vergangenen Woche. Es sei ein Mythos, dass in Schweden alles normal weitergehe. "Viele Unternehmen brechen zusammen. Die Arbeitslosigkeit wird voraussichtlich dramatisch steigen", sagte sie.
Sonderweg mit vielen Toten
Schwedens Sonderweg in der Bekämpfung des Coronavirus fordert einen hohen Preis. In keinem anderen skandinavischen Land gibt es sowohl absolut als auch im Verhältnis zur Bevölkerungszahl so viele Corona-Tote.
Bis Mittwoch starben dort 1.937 Menschen mit einer COVID-19-Erkrankung. Zum Vergleich: In Dänemark gab es bisher 384 Todesfälle, in Norwegen rund 187 und in Finnland 149. Die drei Länder haben jeweils etwa halb so viele Einwohner wie Schweden, vergleichbare Gesundheitsstrukturen und Bevölkerungsverteilung.
Die Zahlen in Schweden waren zuletzt in die Höhe geschnellt. Nach Einschätzung von Staatsepidemiologe Tegnell liegt das vermutlich daran, dass in Schweden viele ältere Menschen in Altersheimen erkrankten und starben. "Wir glauben, wir erreichen mit Freiwilligkeit genauso viel wie andere Länder mit Restriktionen", sagte Tegnell am Montag. Es sei wenig wahrscheinlich, dass Schweden die Richtung ändere.
Schwedische Forscher kritisieren: "Keine Strategie, kein Trend"
Diese Ansicht teilen viele nicht. Knapp 2.000 Wissenschaftler haben die schwedische Regierung zuletzt in einem Brief zum Umdenken aufgefordert. Unter ihnen ist Bo Lundbäck, Professor für klinische Epidemiologie von Lungenerkrankungen in Göteborg. Er hält die hohen Todeszahlen für inakzeptabel und den Preis, den Schweden im Corona-Kampf bezahlt, für zu hoch.
Lundbäck fordert, dass auch in Schweden alle Schulen geschlossen werden und vor allem das Personal in den Altersheimen besser zu schützen. "Die Richtlinien sind viel zu vage und die Menschen sind verwirrt", sagte Lundbäck im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. "Ich sehe nicht, dass Schweden eine konkrete Strategie verfolgt, und ich sehe auch keinen Trend."
Verwendete Quellen:
- Material der dpa
- "Tagesschau": "Peinliche Pannen bei Corona-Studien"
- Deutschlandfunk: "Verwirrung um schwedischen Weg in Coronavirus-Krise"
- "The Local": "Coronavirus LATEST: Swedish government 'ready to introduce more restrictions if needed', warns PM"
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