Verschwörungstheorien boomen in Zeiten der Coronakrise. Was tun, wenn auch Freunde oder Familienmitglieder Falschmeldungen verbreiten? Im Interview erklärt der Wirtschaftspsychologe Carl Naughton, wann und wie man im eigenen Umfeld das Gespräch sucht - und auch, wann es Zeit ist zu gehen.

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Einige behaupten, das Coronavirus gebe es gar nicht, andere vermuten dahinter eine Biowaffe. Warum finden Verschwörungstheorien derzeit so viele Anhänger?

Carl Naughton: Ob Mondlandung oder der Tod von Lady Di - Verschwörungstheorien gab es schon immer, und Forschungsergebnisse zeigen, dass statistisch gesehen jeder Mensch an mindestens eine Variante glaubt. Derzeit haben diese Mythen Hochkonjunktur, da sich viele durch die Coronakrise verunsichert fühlen. Selbst Experten können Fragen zum Virus und zur weiteren Entwicklung derzeit nicht beantworten.

Verschwörungstheorien geben leichte Erklärungen

Verschwörungstheorien geben scheinbar einfache, leicht nachvollziehbare Erklärungen und können bei Menschen ein Sicherheits- und Ordnungsgefühl auslösen. Insbesondere Menschen mit einem sogenannten geringen Unsicherheits-IQ steigen derzeit stark auf Verschwörungstheorien ein. Es ist daher entscheidend, sie beim Umgang mit der Unsicherheit zu unterstützen.

In den sozialen Netzwerken verbreiten sich Verschwörungstheorien besonders gut. Woran liegt das?

Das Internet und Social Media ist eine Art "Basar der Ideen" mit einer Fülle an Erklärungen für eine zunehmend nicht mehr fassbare Welt. Aus psychologischer Sicht gelten dort verschiedene Regeln, die eine Verbreitung von Mythen einfach gestalten.

Zum einen bewegen wir uns im Internet gefühlt anonym und meinen, unser Denken ungefährdet teilen zu können. Weiterhin umgeben wir uns auch online in einer persönlichen Filterblase und bekommen die eigene Gedankenwelt permanent gespiegelt.

Durch Liken und Teilen vervielfältigen sich Spekulationen und lassen sie zu Verschwörungstheoretien anwachsen. Auch der Truth-Effekt spielt eine wichtige Rolle, denn durch ständige Wiederholung der Informationen erscheinen uns Informationen eher als wahr.

Reaktion auf Verschwörungstheorien im eigenen Umfeld

Nicht selten teilen sogar Freunde oder Familienmitglieder Falschmeldungen, beispielsweise per Facebook oder Whatsapp. Wie sollte man darauf reagieren?

Zunächst einmal gilt: nicht abwerten und nicht darüber lustig machen. Auf dieser Basis ist keine Diskussion möglich. Vielmehr sollten wir uns fragen, warum nahestehende Personen uns Informationen zu Verschwörungstheorien mitteilen. Es kann ein Signal für Unsicherheit sein, vielleicht möchte derjenige uns sogar retten.

Wir müssen also die Frage "Was verspricht sich der andere davon, das zu teilen?" klären. Das kann in der Praxis dann so klingen: "Hi, ich habe Deine Nachricht bekommen. Danke, dass Du an mich denkst. Worum geht es Dir denn dabei genau?". Da emotionale Inhalte weniger hinterfragt und schneller geteilt werden, sollten wir beim Sender auch nachhorchen, welche Gefühle hinter dem Verbreiten der Verschwörungstheorien stecken.

Nicht selten verbindet ein Mensch sogar seinen Selbstwert mit diesen Mythen. Dabei hat die betreffende Person das Gefühl, der 'Schafherde' überlegen zu sein, die die offizielle Version naiv glaubt.

Wer helfen will, muss sein Gegenüber ernst nehmen, auch wenn er dessen Meinung nicht teilt. Wie kann man im Gespräch Zweifel säen? Welche Fragen könnte man beispielsweise stellen?

Wir alle haben eine Tendenz dazu, Informationen so zu filtern, dass sie in unsere bestehenden Überzeugungen passen. Das gilt auch für Nicht-Verschwörungstheoretiker.

Daher ist die Ansicht des Gegenübers zunächst zu akzeptieren. Was nicht hilft ist: Vorträge halten, verärgert reagieren, beschimpfen oder beleidigen. Auch von einer Rhetorikschlacht ist abzuraten.

Das "Erst validieren, dann drehen"-Prinzip

Stattdessen hat sich nachweislich das "Erst validieren, dann drehen"-Prinzip bewährt. Im ersten Schritt zeigt man sich offen für Argumente beispielsweise mit dem Satz: "Ich hab auch schon andere über die Frage sprechen hören und gebe dir recht. Es gibt so viele Informationen da draussen, man weiss gar nicht, was man glauben soll."

Im Gegenzug werden dann eigene Gedanken vorgebracht. Es könnte also wie folgt weiter gehen: "Ich bin da skeptisch. Vieles deckt sich nicht dem, was ich gelesen habe. Hier ist ein Artikel, den ich vor kurzem dazu gefunden habe…" Dieser Text sollte dann aus einer verlässlichen Quelle sein, die auch der Gesprächspartner kennt.

Eine Alternative ist das sogenannte 3G-Prinzip, bei dem man selbst und der Verschwörungstheoretiker gedanklich auf zwei Bergen sitzen. Jeder schiesst sein rhetorisches Feuerwerk ab. Als Lösung trifft man sich im Tal des "grössten gemeinsamen Nenners". Das ist der Punkt, an dem sich beide einig sind. Ein Beispiel wäre: "Wir wollen gut durch diese Krise kommen".

Kann ich überhaupt verhindern, dass sich Menschen aus dem nahem Umfeld zu sehr in Verschwörungstheorien verlieren?

Wer helfen will, sollte sich auf nahestehende Personen konzentrieren. Denn die Forschung zeigt: Wenn alternative Denkansätze von Freunden und Familie kommen, sind Verschwörungstheoretiker eher geneigt, zuzuhören. Es lohnt sich also, Zeit in Freundschaften zu investieren und die Diskussion zu suchen.

Wer allerdings als "Helfender" über das kommunikative Ziel hinausschiesst, wird schlicht in die Verschwörungserzählung eingebaut. Freunden wir uns also mit dem Gedanken an, dass wir nicht unbedingt erfolgreich sein werden.

Ein Mensch ist mehr als sein Verhalten

Gibt es die Möglichkeit, Hilfe von aussen zu holen?

Wir können Menschen nicht gegen ihren Willen verändern. Das galt in der Welt vor Corona ebenso wie in der Welt während und nach Corona. Jegliches Angebot, ob privat oder professionell, kann nur greifen, wenn Bereitschaft besteht.

Kritisch wird es, wenn Posts in sozialen Medien oder direkte Nachrichten rassistisch sind. Sollte man dann die Freundschaft aufgeben und den Kontakt einstellen?

Eine grundlegende Regel der Psychologie lautet: Ein Mensch ist mehr als sein Verhalten. Und an eine solche Verschwörungstheorie zu glauben, ist ein Teil dieses Menschen, aber nicht der ganze Mensch. Der besteht noch aus sehr viel mehr.

Jeder, der in einem sozialen Kontakt steht, muss sich mit der Frage auseinandersetzen: "Kann ich den anderen Menschen sein lassen wie er ist oder nicht?" Wenn die Antwort Nein lautet, könnte es Zeit sein zu gehen.

Hinweis: Dies ist ein Interview aus unserem Archiv. Wir bringen es aus aktuellem Anlass noch einmal. In Berlin demonstrierten am vergangenen Samstag Tausende Menschen gegen die Corona-Auflagen in Deutschland. Die meisten Demonstranten waren friedlich, doch eine Gruppe nutzte die Gelegenheit und stürmte bis vor den Eingang des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude. Polizeibeamte drängten die Menschen zurück.
Unter den Demonstranten waren neben Rechtsradikalen auch zahlreiche Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker. Sie gehören einer Bewegung an, die seit Wochen bundesweit Demos gegen die Hygienemassnahmen der Bundesregierung veranstaltet. Unter anderem halten sie das Coronavirus - an oder mit dem laut "statista.com" fast 850.000 Menschen weltweit ums Leben gekommen sind - für eine Erfindung.
Über den Experten: Dr. Carl Naughton ist Wirtschaftspsychologe und Dozent für Psychologie an der FOM Frankfurt. Er betreibt Praxisforschung in den Kernfeldern Berufliche Neugier, Zukunftsmut und Unsicherheits-IQ. Als ausgebildeter Schauspieler arbeitet er zudem als Moderator, Trainer und Buchautor.

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