Grossbritannien steuert in der Coronavirus-Epidemie als nächstes Land auf eine Katastrophe zu. Die Zahlen der Infizierten steigen rapide und der chronisch unterfinanzierte National Health Service (NHS) scheint nicht für die Herausforderungen der nächsten Wochen gewappnet. Was läuft schief bei den Briten?
Als in Deutschland, Österreich und anderen Ländern das öffentliche Leben bereits zum Stillstand gekommen war, sassen die Menschen noch dicht gedrängt in der Londoner U-Bahn und der britische Premierminister
Noch Anfang März erklärte er, er werde weiterhin allen Leuten, die er treffe, die Hand schütteln - ob sie an COVID-19 erkrankt seien, oder nicht. Nicht zum ersten Mal drängte sich ein Vergleich zwischen dem britischen Premier und seinem US-Kollegen
Nun hat es Boris Johnson selbst erwischt. Der Premier wurde vergangenen Freitag positiv auf das Coronavirus getestet. Jetzt laufen auch in England die Massnahmen an. Seit Montag gibt es eine Ausgangsperre. Und Johnsons Ton wird schärfer. In einem Schreiben, das an alle Haushalte in Grossbritannien verschickt wurde, schreibt der Premier: "Die Dinge werden schlechter, bevor sie wieder besser werden."
Es muss davon ausgegangen werden, dass Johnson mit dieser Vorhersage Recht behalten wird - und dass er und seine Regierung daran eine Mitschuld tragen.
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Der NHS ist chronisch unterfinanziert
Eigentlich ist man in Grossbritannien stolz auf den National Health Service (NHS). Auf der Insel braucht niemand eine Krankenversicherung. Jeder Kranke wird behandelt, ohne fürchten zu müssen, auf riesigen Rechnungen sitzen zu bleiben, wie es beispielsweise in den USA der Fall ist.
Dieses Konzept hat aber seine Tücken - und der NHS droht nun angesichts der Coronakrise vollends zu kollabieren. Denn das Gesundheitssystem Grossbritanniens ist seit Jahren chronisch unterfinanziert. Der Brexit, den Johnson massgeblich vorangetrieben hat, hat dazu geführt, dass viele ausländische Pflegekräfte und medizinisches Personal die Insel verlassen haben. Johnson hatte im Wahlkampf versprochen, er werde 50.000 neue Krankenschwestern einstellen, schreibt die "Süddeutsche Zeitung". Es ist eins von vielen Wahlkampfversprechen, die Johnson bislang nicht halten konnte.
Die Zahlen steigen rapide an
Das rächt sich nun. Die Krankenhäuser bersten schon jetzt aus allen Nähten. Am Dienstagabend meldete das britische Gesundheitsministerium 381 Tote binnen 24 Stunden, damit sind in Grossbritannien bislang 2.356 Menschen an der Krankheit COVID-19 gestorben, 29.841 Menschen wurden bislang positiv getestet (Stand 1.4.2020, 17:30 Uhr). Alles deutet darauf hin, dass das Virus immer schneller und aggressiver um sich greift.
Die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen, denn bislang wird in England nur sehr wenig getestet. Zum Vergleich: In Deutschland werden inzwischen fast eine halbe Millionen Menschen pro Woche getestet. In Grossbritannien sind es im gesamten Epidemiezeitraum gerade einmal 143.000 (Stand: 31.03.2020).
Es sind Zahlen, auf die der NHS nicht vorbereitet ist. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Die Ärztegewerkschaft British Medical Association schlägt schon seit Wochen Alarm: Hausärzte und Kliniken haben kaum Masken und Einmal-Handschuhe. Krankenschwestern berichten, dass sie ohne Schutz Patienten versorgen müssen.
Ein Notfallmediziner klagt gegenüber der BBC, man schicke sie los "mit einer Ausrüstung, die Infektionen fördert statt reduziert". Manche Sanitäter würden sich Schutzanzüge aus Müllsäcken basteln.
Jeder vierte Mediziner ist erkrankt oder in Isolation
Eine der Folgen ist, dass inzwischen jeder vierte Mediziner des NHS inzwischen "krank oder in Isolation" ist, wie die Ärzteorganisation Royal College of Physicians mitteilte. Besonders schlimm sollen die Zustände in den Ballungsräumen London und Birmingham sein.
33.000 Betten hat der NHS inzwischen freigeschaufelt, um Corona-Patienten zu behandeln, schreibt die BBC. Insgesamt gebe es zudem 4.000 Intensivbetten, von denen jedoch aktuell vier aus fünf belegt seien. In Deutschland können zum aktuellen Zeitpunkt innerhalb von 24 Stunden mindestens 5.200 zusätzliche Intensivbetten freigemacht werden. Und aktuell haben erst die Hälfte der Krankenhäuser ihre Zahlen bereitgestellt. Die Zahl dürfte in Deutschland also noch höher liegen.
Vor allem Beatmungsgeräte fehlen
Grossbritanniens grösstes Problem sind allerdings die fehlenden Beatmungsgeräte. Momentan stehen dem NHS gerade einmal 8.000 Stück zur Verfügung. Einem BBC-Bericht zufolge rechnet die Regierung zum Höhepunkt der Pandemie mit einem Bedarf von 30.000 Geräten. Fast 30 Unternehmen haben sich nun unter der Führung von Airbus zur "Ventilator Challenge UK" zusammengeschlossen, um bei der Produktion zu helfen. Staubsaugerhersteller Dyson will beispielsweise 10.000 Beatmungsgeräte liefern.
An einem Beschaffungsverfahren der EU nimmt Grossbritannien nicht teil - obwohl das während der Übergangsphase des Brexit eigentlich noch möglich gewesen wäre. Stattdessen habe Johnson offenbar lieber US-Präsident Donald Trump um Hilfe gebeten. Trump berichtete, noch vor der Begrüssung habe der britische Premier gesagt: "Wir brauchen Beatmungsgeräte."
Khan bittet Fussballvereine um Hilfe
Londons Bürgermeister Sadiq Khan hat sich dagegen andere Verbündete im Kampf gegen das Coronavirus gesucht. Er bat die Fussballclubs der britischen Hauptstadt um Hilfe. Die Vereine sollen dem NHS ihre Teamärzte und ihr medizinisches Personal zur Verfügung stellen. Und in den Stadien, wo vor wenigen Wochen noch Fussball gespielt wurde, sollen nun Feldkrankenhäuser entstehen.
Dort, wo Gemeinden besonders überfordert sind von der Epidemie, hilft darüber hinaus das Militär aus. In London hat der Planungsstab der Armee gerade das ExCel-Center im Osten der Stadt in eines der grössten Krankenhäuser der Welt verwandelt.
Grossbritannien stemmt sich mit aller Macht gegen die Krise. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die Bemühungen noch rechtzeitig kommen.
Verwendete Quellen:
- dpa
- BBC: Coronavirus: Is the NHS ready for the surge in cases?
- BBC: Coronavirus: Is the UK testing enough people?
- "The Guardian": UK government orders more ventilators for coronavirus crisis
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