In der Diskussion um die Ausgabe von Coronabonds fühlen sich die Italiener von den Deutschen im Stich gelassen. In der Enttäuschung kochen alte Vorurteile hoch, die zu heftigen verbalen Attacken gegen Deutschland führen. Ein Experte erklärt, wie es so weit kommen konnte.
Die Deutschen lieben die Italiener, aber sie schätzen sie nicht. Die Italiener schätzen die Deutschen, aber sie lieben sie nicht – dieses Sprichwort beschreibt die Beziehung zwischen Deutschen und Italienern normalerweise sehr treffend. Doch dieser Tage scheint es, als sei der zweite Satz ausgesetzt worden.
Ein Video, das seit Anfang April im Internet kursiert, zeigt erschreckend deutlich, dass von der Wertschätzung der Italiener für die Deutschen aktuell nicht viel übrig geblieben zu sein scheint.
Deutschland-Anfeindungen im Netz
In dem rund dreiminütigen Clip schimpft Tullio Solenghi, ein in den 1980er- und 90er-Jahren berühmter Komiker und Schauspieler, über die Deutschen. Er sagt, diese hielten sich, nachdem sie zwei Weltkriege angezettelt und sechs Millionen Juden vergast hätten, bis heute "für eine überlegene Rasse".
Aber auch manche Politiker halten ihre Ablehnung gegenüber Deutschland nicht zurück. So erklärte die rechte Politikerin Georgia Meloni in einem Facebook-Video ausführlich ihre These, dass Deutschland Italien absichtlich in den Ruin treibe. Das Video wurde bisher 9,1 Millionen Mal angeklickt und über 160.000 Mal geteilt.
Vorurteile durch Streit um Coronabonds neu entfacht
Der Anlass für diese Angriffe auf Deutschland sind die Verhandlungen über die Bereitstellung von EU-Finanzhilfen, die den Mitgliedstaaten zukommen sollen, die besonders schwer von den wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise betroffen sind. Italien, Frankreich und Spanien fordern die Bereitstellung von zeitlich begrenzten Schuldscheinen, sogenannten "Coronabonds".
Eine Allianz von Ländern Nordeuropas, allen voran Deutschland und die Niederlande, stellte sich anfangs deutlich gegen diese Forderung, weil sie eine Vergemeinschaftung von Schulden ablehnt. Donnerstagabend einigten die Länder sich nun auf einen vorläufigen Kompromiss, die Details sollen nach Ostern verhandelt werden.
Doch die Weigerung der nordeuropäischen Länder, den Coronabonds zuzustimmen, ist in Italien sehr negativ aufgenommen worden. Selbstverständlich stimmt die grosse Mehrheit der Italiener den überspitzen Attacken auf Deutschland im Internet nicht in diesem Ausmass zu, doch auch in der breiten Bevölkerung fühlt man sich von Deutschland im Stich gelassen. Denn während die Debatte über die EU-Hilfsmassnahmen in Deutschland vor allem technisch geführt wird, verfolgt die italienische Öffentlichkeit ihren Verlauf emotional und engagiert.
Italien fühlt sich in der Coronakrise allein gelassen
Matteo Scotto, wissenschaftlicher Referent in der Villa Vigoni, einem deutsch-italienischen Zentrum für den Europäischen Dialog, ordnet die italienische Empörung ein: "Seit der Finanzkrise von 2008 gibt es in Italien das Vorurteil, dass die Deutschen nur daran interessiert sind, um jeden Preis ihre strenge Sparpolitik durchzusetzen." Selbstverständlich würden nicht alle Italiener so von Deutschland denken, aber dieses Vorurteil würde durch das deutsche Nein zu den Coronabonds wiederbelebt werden.
Die katastrophalen Folgen des Coronaausbruchs, die Italien derzeit zu erleiden hat, tragen dazu bei, dass das Thema noch stärker emotional aufgeladen ist und das deutsche Nein zu Coronabonds wie eine generelle Absage europäischer Solidarität empfunden wird. Dass Deutschland Italien zur Unterstützung in der Coronakrise Hilfsgüter geschickt hat und italienische Coronapatienten in deutschen Krankenhäusern behandelt, geht dabei in der Enttäuschung unter
Denn Italien ist aktuell das Land in Europa, das als erstes vom Coronaausbruch betroffen war und bisher am meisten unter seinen Folgen leidet.
Auch wirtschaftlich ist Italien maximal betroffen, denn seit knapp drei Wochen sind nicht nur Restaurants und Cafés, sondern alle Unternehmen geschlossen, die keine strategische Relevanz haben. Viele Arbeitnehmer und Unternehmer stehen vor dem Scherben ihrer Existenz.
"In Italien denken wir oft, dass unsere Forderung der einzig mögliche Weg ist"
Scotto kritisiert aber auch die Haltung von Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte in der Diskussion um die Eurobonds. Dieser hätte von Anfang an klarer kommunizieren müssen, dass die italienische Forderung nur ein Ausgangspunkt sei, auf dessen Basis diskutiert und anschliessend ein Kompromiss gefunden wird, der die Interessen aller Länder widerspiegelt.
"In Italien denken wir oft, dass unsere Forderung der einzig mögliche Weg ist. Wir müssen lernen, uns in der europäischen Demokratie zu bewegen und auf politischer Ebene Kompromisse einzugehen", sagt er.
Hinzu kommen Vorurteile, die noch aus dem zweiten Weltkrieg nachwirken. Scotto erklärt: "Das hat auch damit zu tun, dass es in Italien keine ausreichende Aufarbeitung dieser Zeit gegeben hat. Es ist nicht eindeutig geklärt, wer in Italien die Bösen und wer die Guten waren. Klar ist nur, dass die Deutschen eindeutig die Bösen gewesen sind."
Italien und Deutschland: Mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede
Scotto sieht die Schuld an der Eskalation der Situation aber nicht allein bei den Italienern: "Deutschland sollte darum bemüht sein, Italien nicht so zu behandeln, wie Eltern mit ihrem Kind umgehen. Es wäre besser, wenn die Länder sich als ebenbürtige Gesprächspartner anerkennen würden." Die Länder würden gut daran tun, sich auf ihre Gemeinsamkeiten zu konzentrieren, ermutigt Scotto.
Denn Italien und Deutschland – beides Gründungsmitglieder der europäischen Union – seien schliesslich geschichtlich, kulturell und wirtschaftlich sehr eng miteinander verbunden, sagt er. Im Rahmen der EU sollten sie diese Gemeinsamkeiten nutzen, um Konsens zu schaffen, denn: "Die Europäische Union bietet eine wunderbare Plattform, auf der Kompromisse gefunden werden können, die im Interesse aller beteiligten Länder sind."
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