Schweden geht seinen eigenen Weg im Kampf gegen das Coronavirus. Zu Hause bleiben müssen die Menschen nicht. Die liberale Haltung hat ihren Preis.
In Stockholm ist es seit einigen Tagen ähnlich sonnig wie in Berlin, Hamburg oder München. Und doch gibt es einen Unterschied: Am Wochenende waren Strassencafés und Parks in der schwedischen Hauptstadt gefüllt mit Besuchern.
Etwas, von dem man hierzulande nur träumen kann. Trotz der Gefahr einer Ansteckung mit dem Coronavirus geniessen die Schweden deutlich mehr Freizügigkeit.
Der schwedische Sonderweg hat in der Coronakrise in mehreren Ländern Verwirrung ausgelöst. Vielerorts, nicht zuletzt bei den Nachbarn in Dänemark und Norwegen, fragt man sich, ob die Schweden wissentlich und offenen Auges in die Katastrophe laufen - oder ob sich ihre Strategie am Ende auszahlen wird.
Coronavirus: Schweden legt Menschen nahe, zu Hause zu bleiben
Anders als in den anderen skandinavischen Ländern und in weiten Teilen Europas greift die schwedische Regierung nicht mit äusserst strikten Massnahmen wie der Schliessung von Schulen und Restaurants in den Alltag ihrer Bürger ein. Den Menschen wird lediglich ans Herz gelegt, Abstand zu halten und zu Hause zu bleiben, wenn sie krank sind.
Cafés und Lokale, Friseure, Einkaufszentren und Fitnessstudios sind weiter geöffnet. Auch in den Kindergärten und Grundschulen bis zur neunten Klasse herrscht reger Betrieb.
Kristina Lundgren versucht, sich an die Empfehlungen zu halten. Sie ist weit über 80, und ihrer Altersgruppe rät die Regierung ausdrücklich, enge Kontakte zu anderen Menschen zu meiden.
In ihrem Wohnblock in Stockholm lebt sie mit älteren Menschen und Studierenden. Ihr wöchentlicher Kaffeeklatsch und die Kinovorführung wurden abgesagt, und wenn Lundgren im Freien auf Nachbarn trifft, hält sie zwei Meter Abstand.
Ihre Cousine sei kürzlich infolge der Lungenkrankheit COVID-19 verstorben. Doch für die jungen Leute im Haus scheint das nicht relevant. "Ich merke, dass die trotz der Empfehlungen der Gesundheitsbehörde noch Freunde einladen."
1.765 Menschen an COVID-19-Erkrankung in Schweden gestorben
Dass das soziale Leben – zumindest bei den Jungen - weiter floriert, hat seinen Preis. In Schweden wurden weitaus mehr Infizierte mit dem Coronavirus registriert als in den anderen nordischen Ländern.
Bis Dienstag starben 1.765 Menschen mit einer COVID-19-Erkrankung. Zum Vergleich: In Dänemark gab es bisher rund 370 Todesfälle, in Norwegen rund 180. Beide Länder haben jeweils halb so viele Einwohner wie Schweden.
Ungeachtet der hohen Zahlen vertrauen Schwedens Regierung und Gesundheitsbehörde auf den Staatsepidemiologen Anders Tegnell. Er steht symbolhaft für den schwedischen Sonderweg.
Von Schul- und Grenzschliessungen hält er nichts, auch sonst ist seine Strategie eine andere als die, die fast alle anderen in Europa gewählt haben. "Wir glauben, wir erreichen mit Freiwilligkeit genauso viel wie andere Länder mit Restriktionen", sagte Tegnell am Montag. Es sei wenig wahrscheinlich, dass Schweden die Richtung ändere.
Kritik an Staatsepidemiologe Anders Tegnell
Die Zahlen der vergangenen Tage scheinen Tegnells Theorie zu bestätigen. Am Freitag sprach Karin Tegmark Wisell von der Gesundheitsbehörde von einem Abwärtstrend bei der Zahl der Toten. "Es gibt immer noch eine grosse Anzahl von Verstorbenen pro Tag, aber wir sehen keinen Anstieg, sondern eine Verlangsamung."
Diese Sicht teilen andere nicht. Knapp 2.000 Wissenschaftler haben die schwedische Regierung zuletzt in einem Brief zum Umdenken aufgefordert. Unter ihnen ist Bo Lundbäck, Professor für klinische Epidemiologie von Lungenerkrankungen in Göteborg.
Lundbäck hält die hohen Todeszahlen für inakzeptabel und den Preis, den Schweden im Kampf gegen das Coronavirus bezahlt, für zu hoch. "Ich sehe nicht, dass Schweden eine konkrete Strategie verfolgt und ich sehe auch keinen Trend", sagt er im Gespräch mit der Deutsche Presse-Agentur. "Die Richtlinien sind viel zu vage und die Menschen sind verwirrt."
"Schweden gegen den Rest der Welt"
Dass die Kneipen und Einkaufszentren in Stockholm am Wochenende voll waren, zeige, dass die Botschaft nicht richtig angekommen sei. "Die Leute scheinen zu glauben, das hier sei ein Eishockeyspiel: Schweden gegen den Rest der Welt."
Dabei würden täglich immer noch Hunderte neue Ansteckungen registriert. Lundbäck fordert deshalb die Schliessung aller Schulen und einen besseren Schutz des Personals in den Altersheimen. "Wir in Schweden glauben, wir sind besser als die anderen und müssen nicht auf die WHO hören. Das ist dumm."
Doch an Staatsepidemiologe Tegnell prallt die Kritik ab. Er geht davon aus, dass Schweden sich in einer anderen Phase als seine Nachbarn befinde und deshalb höhere Zahlen habe.
Immer wieder spricht er von Herdenimmunität - das heisst, die Verbreitung des Virus wird gestoppt, weil immer mehr Menschen dagegen immun sind, weil sie die Krankheit überwunden haben. Tegnell rechnet damit, im Mai Anzeichen für eine Immunität in Stockholm erkennen zu können. Er beruft sich dabei auf mathematische Modelle.
In Norwegen und Dänemark hat man die Verbreitung des Virus unterdrückt
"Schwedens Weg muss nicht falsch sein", meint Claus Wendt von der Uni Siegen, der die Hintergründe des schwedischen Sonderwegs analysiert hat. Das Land habe gute Voraussetzungen, der Pandemie zu begegnen.
Die Schweden seien allgemein bei guter Gesundheit, es gebe wenig Armut und soziale Ungleichheit und die Gesundheitsdaten der Menschen seien erfasst. "Ein ähnliches Datenniveau, um die Entwicklung und Ausbreitung von Krankheiten im Zeitverlauf zu erfassen, ist für Deutschland nicht erhältlich", so Wendt.
Dass Schweden seine gute Ausgangsposition genutzt hat, ist auf den ersten Blick jedoch nicht ersichtlich. In Norwegen und Dänemark hat man die Verbreitung des Virus nicht nur abgebremst, sondern unterdrückt - mit so grossem Erfolg, dass die Schulen, Kindergärten, Friseure und Zahnärzte zumindest teilweise wieder öffnen können.
Wohin führt Schwedens Weg?
Unklar ist, wohin der Weg der Schweden genau führen soll: Wenn Herdenimmunität das Ziel ist, dann ist das Land ein Stück weiter. Die Schweden könnten einer zweiten Viruswelle entkommen. Norwegen, Dänemark und Deutschland riskieren, ihr Land wieder schliessen zu müssen, wenn sie nicht gewappnet sind.
Für den Lungenspezialisten Lundbäck wäre eine solche neue Welle trotz allem aber das bessere Szenario. "Wir wissen nicht genug über eine mögliche Immunität", sagt er. "Aber wir wissen, dass wir im Herbst Medikamente zur Verfügung haben, die gegen das Virus helfen."
Das Wichtigste sei, so viele wie möglich zu testen. Immerhin ist er sich da einig mit Tegnell und der Regierung: Sie hat vor wenigen Tagen das Ziel angegeben, deutlich mehr Menschen testen zu lassen. (msc/dpa)
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