Die Coronakrise verändert das öffentliche Leben zusehends. Aber hat das Virus auch die Kraft, die Achsen der Politik zu verschieben? Der Politikwissenschaftler Volker von Prittwitz erklärt die Folgen der Viruswelle – von der Kanzlersuche bis hin zu Punktgewinnen für Big Data.
Die Auswirkungen der Coronakrise sind in Deutschland und weltweit spürbar: Gestrichene Flüge, abgesagte Veranstaltungen, leere Fussgängerzonen und Millionen unter Quarantäne – an niemandem geht die Pandemie spurlos vorbei. So auch nicht an der Politik: Der Bundestag ist im Corona-Modus, auf der politischen Agenda steht einzig und allein die Eindämmung der Viruswelle. Was für politische Folgen bringt das mit sich?
"Was Corona-Viren sind, wie sie wirken und wie wir uns vor ihnen schützen können, sagen uns Virologen. Kommt es zu einer Virus-Epidemie, haben Staat und Politik allerdings darüber zu befinden, wie vorgegangen wird“, sagt Politikwissenschaftler Volker von Prittwitz.
Parteipolitische Aspekte spielten kaum eine Rolle, politische Differenzen machten sich jedoch bemerkbar. Beispiel: Während der Liberale
"Kriegsmetapher ist gefährlich“
Mit martialischen Worten hatte der französische Präsident Emmanuel Macron dem Virus den Kampf angesagt: "Wir befinden uns im Krieg“, so Macron. Politikwissenschaftler von Prittwitz hält das für ein verfehltes Denkmuster. "Nach herkömmlichem Denken organisiert sich eine Gemeinschaft bei Krieg am entschlossensten und vollständigsten. Krieg allerdings wird zwischen Akteuren geführt, die sich wechselseitig zu vernichten suchen“, erinnert er.
Dazu gehörten Freund-Feind-Denken und Nullsummen-Konstellationen. "Ausserdem produziert Krieg meist sinnlose Opfer, vor allem junge Menschen, und Lügen und Anti-Kommunikation, die den Feind verwirren sollen, werden gerechtfertigt“, so der Politikwissenschaftler. Eine Virusepidemie hingegen bilde eine Herausforderung für das öffentliche Handeln, in der rasch, umsichtig, konsequent und transparent agiert werden sollte.
Zu spät entschlossen gehandelt
Mit Blick auf die deutsche Bundesregierung sieht von Prittwitz Verbesserungsbedarf: "Hätten die Verantwortlichen früher und entschlossener gehandelt, um eine Corona-Verbreitung in Deutschland kleinzuhalten, hätten wir jetzt wahrscheinlich nur mit einem Teil der Probleme zu kämpfen“, urteilt er. Für die Zukunft heisst das: "Politik muss bei erkennbaren Sachfragen rascher und zielorientierter handeln – zum Beispiel auch bei der Klimafrage“, so von Prittwitz.
Die Regel, Kontakte zu vermeiden, erscheint ihm zielorientiert und angemessen. "Zugang zu Licht, frischer Luft und individueller Bewegung dürften nicht nur die Risiken psychischer Blackouts und häuslicher Gewalt verringern, sondern auch der allgemeinen Gesundheit und insofern der Eingrenzung und Milderung der Epidemie dienen“, sagt er.
AfD rutscht in Coronakrise ab
Die Akzeptanz unter den Bürgern ist mit 95 Prozent hoch. Das zeigen auch die Umfrageergebnisse: In der Coronakrise legt die Union deutlich zu, die AfD verliert zwei Prozentpunkte und rutscht unter zehn Prozent. Von Prittwitz wundert das nicht: "Es liegt nahe, dass die AfD in einer Situation an Zuspruch verliert, in der der Staat besonders herausgefordert wird und handelt.“ Die Klientel der Partei favorisiere autoritatives Handeln. "Handelt der Staat sichtbar entschlossen im Sinne von Gefahrenabwehr, verliert populistische Systemkritik an Glaubwürdigkeit“, so von Prittwitz.
Gleichzeitig kämpfen
Macht Corona Kanzler?
Macht Corona also Kanzler? "Wer Kanzler wird, ist nach wie vor offen“, sagt von Prittwitz, aber: "Wer Teil der Exekutive ist, so Ministerpräsidenten, hat allerdings Vorteile, denn die Coronakrise bietet ein Parkett, um zu punkten.“ Dieser allgemeine Vorteil verstärke sich in der akuten Krise. Schwaches Krisen-Management könne allerdings Wahlchancen auch verringern. "Siehe die teilweise grotesken Aussetzer des US-amerikanischen Präsidenten Trump“, so von Prittwitz.
Welche langfristigen politischen Folgen das Coronavirus mit sich bringen wird, ist in den Augen des Experten schwer zu sagen. "Es gibt viele Szenarien längerfristiger Auswirkungen von Corona, von rechts bis links, so etwa harmonistische Vorstellungen nun anbrechender ewiger Solidarität“, sagt er. Rechtlich betrachtet, stehe einem dauerhaften Strukturbruch jedoch das polizeirechtliche Konzept der Gefahrenabwehr entgegen: "Damit erhält die Exekutive zwar besondere Rechte, dies aber nur in einem definierten Ausnahmefall, der mit bestimmten Gültigkeitsfristen versehen werden muss“, erinnert von Prittwitz.
Punktgewinn für Big Data
Anders jedoch bei Staaten wie Russland, Venezuela oder China, die sich zwischen Demokratie und Autokratie bewegen. "Sie wollen solche Ausnahmesituationen für dauerhafte Machtgewinne nutzen“, sagt von Prittwitz. Beispiel Israel: Dort regiert Benjamin Netanjahu per Notdekret, hat den Geheimdienst gestärkt und greift mittels Big Data massiv in die Persönlichkeitsrechte seiner Bürger ein.
Auch China setzt Big Data im Kampf gegen das Virus ein. Von Prittwitz sieht darin eine Gefahr: "Wie verschiedene europäische Regierungen - beeinflusst durch das Beispiel Chinas - mit Datenautonomie umgehen, hat zu einem neuen Zwischengipfel auf dem Weg zum Abbau informationeller Autonomie geführt“, beobachtet er. Corona beschleunige all das.
Rückzug ins nationale Schneckenhaus
Auch den politischen Reflex, sich ins eigene Schneckenhaus des Nationalen zurückzuziehen, beobachtet von Prittwitz. Dabei betont er: "Es gibt Potenziale der kooperativen Gefahrenabwehr – nicht nur nach aussen, sondern auch zwischen den Mitgliedsländern.“ Das Saarland hat etwa Coronapatienten aus dem Elsass medizinische Hilfe angeboten.
Verschiebt Corona die Achsen der Politik nachhaltig? Werden Wissenschaftler die neuen Politiker? "Dass Virologen im Augenblick das öffentliche Sagen haben, erscheint selbstverständlich. Gefahrenabwehr operiert expertengestützt“, sagt von Prittwitz. Mittelfristig könnte Gesundheitspolitik in seinen Augen als Lehre von Corona an Gewicht gewinnen.
Menschenleben versus Wirtschaft?
Dazu gehören auch institutionelle Konsequenzen: "So, wie einige asiatische Länder aus der SARS-Epidemie 2003 gelernt und die Corona-Epidemie weit früher und intelligenter gemanagt haben, sollten wir uns in Zukunft besser auf Viruswellen und Epidemien einstellen.“ Dazu müsse rasch, entschlossen und umsichtig gehandelt werden können.
Heisst es am Ende Menschenleben versus Wirtschaft? "Politik muss grundsätzlich eine Balance zwischen unterschiedlichen Interessen finden. Der Versuch, Menschenleben zu retten, steht aber immer an erster Stelle und wiegt gerade jetzt am meisten“, stellt von Prittwitz klar. Gesundheitspolitik könne jedoch nicht ohne funktionierende Ökonomie erfolgreich sein. "Wir dürfen Gesundheitspolitik und Ökonomie nicht gegeneinander ausspielen, sondern müssen beides zusammendenken“, so von Prittwitz - eine Herausforderung zivilen und politischen Lernens.
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