Verschwörungstheorien haben in Krisenzeiten immer wieder aufs Neue Hochkonjunktur - das zeigt die gegenwärtige Verbreitung solch konspirativer Fehlinformationen eindrücklich. Was geht da vor im Menschen, warum reagiert er so?
Eines der Youtube-Videos, das in Deutschland in der Corona-Krise am bekanntesten geworden ist, dauert 30 Minuten und 29 Sekunden. Es trägt den Titel "
Corona-Fehlinformationen sind in diesen Tagen ein globales Problem. Laut einer Studie eines Forscherteams um Heidi Oi-Yee Li von der kanadischen University of Ottawa enthalten mehr als ein Viertel der meistgeschauten englischsprachigen Covid-19-Videos auf Youtube irreführende Inhalte. Sie wurden demnach mehr als 62 Millionen Mal angeklickt, berichten die Forscher nach der Analyse von insgesamt 69 Videos im Fachmagazin "BMJ Global Health".
Menschen fühlen sich unsicher und machtlos
Krisen sind ein besonders guter Nährboden für Verschwörungstheorien, sagt Bernd Harder von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP). Menschen suchten hinter grossen Ereignissen gerne grosse Ursachen: "Selbiges erleben wir jetzt, wo ein winziges, unsichtbares und im wahrsten Sinne des Wortes "unfassbares" Virus die Welt in Atem hält", erklärt er. "Das kann man sich kaum vorstellen, also muss etwas Greifbares dahinterstecken - etwa eine höhere Macht, die dieses Virus im Labor gezüchtet und losgelassen hat, um damit ganz bestimmte Ziele zu erreichen."
Menschen fühlten sich in Zeiten tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche mitunter unsicher und machtlos, sagt die Sozialpsychologin Pia Lamberty von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. "Verschwörungserzählungen sprechen genau diese Gefühle an: Die Verschwörungserzählung strukturiert die Welt. Es gibt die bösen Verschwörer und die, die scheinbar die Wahrheit sehen; die Welt wird begreifbarer."
Bei genauerem Hinsehen liessen sich Verschwörungstheoretiker recht eindeutig von Menschen unterscheiden, die bestimmte Sachverhalte - etwa die Corona-Massnahmen der Bundesregierung - kritisch hinterfragten, sagt Harder: "Wenn im Grunde gar nicht mehr gefragt wird, sondern bereits feststeht, dass wir belogen werden, dass ein gigantisches Komplott umgesetzt wird, dass Bill Gates uns alle chippen will, dass eine Merkel-Diktatur errichtet werden soll, dass ein Impfzwang eingeführt werden soll - dann ist es keine Kritik mehr, sondern eine Verschwörungstheorie."
Expertenwissen uneindeutig und widersprüchlich
Menschen mit starker Verschwörungsmentalität machten in der Glaubwürdigkeitsbeurteilung keinen Unterschied zwischen Experten und Laien, ergänzt Lamberty. Ausserdem tendierten sie dazu, Erzählungen dann Glauben zu schenken, wenn sie von einer kleinen Gruppe vorgetragen würden - und nicht von der Mehrheit.
Hinzu kommt laut Harder, dass das Expertenwissen derzeit oft als "uneindeutig und widersprüchlich" wahrgenommen werde. "Dass es in so einer komplexen neuen Situation mit zahllosen Einzelinteressen und Abwägungen keine eindeutigen politischen und medizinischen Antworten geben kann, ist für viele schwer auszuhalten, weil alle natürlich wissen möchten, wo es langgeht." Verschwörungstheoretiker seien da mit ihren falschen, aber oft eindeutigen und verständlichen Behauptungen klar im Vorteil.
In mehreren deutschen Städten trafen sich in den vergangenen Tagen erneut Menschen zu sogenannten Hygiene-Demonstrationen. Diese Gruppen seien sehr heterogen, betont der Politologe Tom Mannewitz von der TU Chemnitz. Verschwörungstheoretiker seien zwar darunter, aber auch Rechtspopulisten, Antidemokraten - und Menschen der bürgerlichen Mitte. "Der kleinste gemeinsame Nenner ist wohl, dass sie gegen die Corona-Massnahmen der Regierung sind."
Mannewitz betont, dass die Gruppe der Demonstranten zwar momentan sehr laut, aber auch verhältnismässig klein sei. Er erwarte zwar, dass der Zuspruch zu den Regierungsmassnahmen, der momentan sehr hoch sei, weiter abnehmen werde, sagt Mannewitz. "Aber momentan sind wir jenseits davon, dass wir sagen könnten, hier wäre eine massive gesellschaftliche Spaltung." (dpa/fra)
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