Die Ausbreitung des Coronavirus ist für viele Verschwörungstheoretiker ein gefundenes Fressen. Sie nutzen die Pandemie und ihre Folgen für ihre absurden Thesen. Ob Strafe Gottes, Komplott der Wirtschaft oder andere Verschwörungstheorien: Die Erklärungen für COVID-19 sind zahlreich und machen den Menschen Angst. Doch an all den abstrusen Nachrichten ist nichts dran, wie der Soziologe David Begrich erklärt. Er gibt Tipps, wie man sich gegen die wilden Theorien – auch in WhatsApp-Chats - wehrt und entlarvt.
Herr Begrich, die Ausbreitung des Coronavirus wird begleitet von Verschwörungstheorien? Wie kommt es dazu?
David Begrich: Die Situation in der Gesellschaft ist derzeit von starker Verunsicherung geprägt. Menschen greifen in solchen Momenten zu Erklärungen, die scheinbar eindeutig und schlüssig, Ursachen und Wirkungszusammenhänge der Coronakrise darstellen, die sich auf ein Muster zurückführen lassen: es gäbe vor den Bürgern verborgenes Wissen über das Virus und seine Auswirkungen.
Verschwörungstheorien präsentieren ein scheinbar geschlossenes Weltbild einer Kette von angeblichem Geheimwissen, Vertuschungen und Plänen intransparenter Mächte, die den gesellschaftlichen Prozess lenkten.
Vor allem rechte und linke Verschwörungstheoretiker schmeissen die wildesten Theorien ins Netz - warum nutzen diese die Zeit der Unsicherheit für sich?
Verschwörungstheorien verlaufen quer zu den politischen Lagern, sind also überall anzutreffen. Im Grunde werden die vorhandenen verschwörungstheoretischen Deutungsmuster der gegenwärtigen Lage nur angepasst.
Das Virus wird sozusagen zum neuen Trägermedium alter Verschwörungstheorien, die nach dem Motto funktionieren: Das eigentliche Geschehen in Politik und Gesellschaft finde nicht auf der offenen Bühne, sondern ausschliesslich hinter den Kulissen statt. Solche Theorien behaupten, im Besitz von Wahrheiten zu sein, die eine Mehrheit der Menschen nicht erfassen könne, weil sie gezielt manipuliert werden.
Ob es sich dabei um das Virus handelt oder um die angebliche Wahrheit über den 11. September 2001, muss dann nur noch in der jeweiligen Verschwörungserzählung angepasst werden.
Islamische Geistliche sprechen von göttlicher Bestrafung - woher kommt diese Theorie und wie kann man sie entkräften?
Die Rede davon, dass das Virus eine Strafe Gottes ist, ist derzeit bei allen religiös-fundamentalistischen Strömungen anzutreffen. Auch bei einigen christlichen Fundamentalisten und Sekten.
Es ist die Aufgabe der Kirchen und Religionsgemeinschaften, schematischen Gottesbildern und eindimensionalen Deutungen des Geschehens entgegenzutreten. Geschieht dies nicht, so nimmt das Gefühl der Handlungsohnmacht bei religiösen Menschen zu.
Im Irak hingegen hiess es, die Pandemie sei ein amerikanisch-politisches Komplott, um die Weltbevölkerung zu dezimieren. Worin liegt der Ursprung dieser Theorie?
Hier mischen sich Antiamerikanismus und biologistische Motive. Der Ursprung dieser Theorie liegt in den Debatten um Überbevölkerung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Auch antisemitische Verschwörungstheorien haben gerade Hochkonjunktur: Warum richten sich diese Theorien vor allem am Ende gegen die jüdische Bevölkerung?
Unabhängig von Corona sind eine Vielzahl von Verschwörungstheorien an antisemitische Stereotype gebunden. Im Mittelalter wurden die Juden für Seuchen und Krankheiten verantwortlich gemacht. Es folgten Vertreibung und Pogrome.
Die antisemitische Vorstellung geheimer Mächte, die angeblich im Hintergrund unsichtbar die Fäden in der Welt zögen, ist tief in der Kulturgeschichte Europas verankert. Die Gefahr, dass antisemitische Stereotype in der gegenwärtigen Coronakrise wieder aufleben ist vorhanden.
Eine beliebte Verschwörungstheorie, die uns in diesen Tagen vor allem in WhatsApp-Chats begegnet: Die Pharmaindustrie und die Politik haben sich zusammengeschlossen - die Bevölkerung ahnt nichts von diesem Komplott: Warum glauben so viele Menschen an eine Verschwörung?
Der Grund ist darin zu suchen, dass viele Menschen die Komplexität politischer und wirtschaftlicher Vorgänge und auch ihrer Interessenunterschiede nicht in ihrer Mehrdimensionalität erfassen. Einfache Erklärungen für offenkundige Defizite im Gesundheitswesen passen in dieses Bild.
Was kann man den Verschwörungstheoretikern entgegensetzen?
Die Fähigkeit, sich selbst und andere aus sehr unterschiedlichen Quellen zu informieren, die Quellen und ihre Seriosität zu prüfen, sich eine eigene Meinung zu bilden und fortlaufend kritisch informiert zu bleiben, statt scheinbar einfachen Erklärungsmuster zu folgen.
Wie reagiere ich am besten, wenn innerhalb meiner Familie plötzlich Verschwörungstheorien auftauchen?
Wie beschrieben geht es darum, im Gespräch zu bleiben und die Reflexionsfähigkeit der Menschen zu aktivieren, zu fragen, ob scheinbar so schlüssige und einfache Antworten wirklich mit der Realität übereinstimmen.
Verschwörungstheorien zeichnen sich ja dadurch aus, dass sie um ein durchaus bestehendes Faktum herum, also hier der Existenz des Virus und seiner Verbreitung, gebaut werden. Es gilt also zu lernen mit Quellen und Informationen kompetent umzugehen.
Was raten Sie als Soziologe in Zeiten der Coronakrise?
Ich denke in den kommenden Wochen bedarf es neben der medizinischen Expertise auch der Begleitung durch Psychologie und Soziologie. Die Folgen der sozialen Distanz, der Verunsicherung und des Bedarfs an Orientierung werden sich erst nach einer gewissen Zeit zeigen. Die menschliche und gesellschaftliche Dimension der Lage bedarf der Debatte in der demokratischen Öffentlichkeit.
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